Der Tag bricht an: Roman (Fortune de France) (German Edition)
überspringe in Gedanken die paar Stunden, die uns von der Dämmerung und der von mir bestimmten Stunde trennten, um unserer Falle zu entrinnen, und du siehst mich tun, was du selbst tun würdest,sobald du mit deinen Gefährten, den Hut tief in die Stirn gedrückt, die Nase im Mantel vergraben, auf der Wendeltreppe wärst: Du würdest wie ich die Tür von Madame de Saint-Paul doppelt abschließen, eine Etage höher steigen, unsere Tür abschließen und den Schlüssel im Schloß stecken lassen, dann mit dem anderen Schlüssel die Tür zur Gasse öffnen und auch diese Tür wieder doppelt verschließen; all das mit wild klopfendem Herzen und unendlichem Jubel im Bauch bei der Vorstellung, wie Saint-Paul staunen wird, wenn er am nächsten Tag feststellen muß, daß die Vögel ausgeflogen sind, obwohl der Käfig genauso verschlossen ist wie vorher, obwohl jegliches Entkommen doch vollkommen unmöglich war, sowohl über die verrammelte Wendeltreppe wie durch die Fenster, die auf den von Spaniern bewachten Hof gingen, und erst recht über die Ehrentreppe, wo die Wachen so zahlreich waren wie die Stufen selbst.
Mein Vater, der sich auf dem Gebiet wahrlich auskannte, pflegte zu sagen, das Wichtigste, was ein Kriegsmann brauche, sei Scharfsinn, sodann Tapferkeit, sodann Glück. Worauf er hinzusetzte, wer die beiden ersten Tugenden besitze, dem werde das dritte oft obendrein beschert. Ich kann dieses Wort weder bestreiten noch bestätigen, denn im Gegensatz zum Baron von Mespech habe ich nur an einer Schlacht teilgenommen – einer schrecklichen allerdings – nämlich der von Ivry –, und das nicht als Anführer, sondern als Soldat. Indessen kann ich feststellen, daß mir bei meinen Missionen, sofern ich gut nachdachte, der Zufall immer wieder zu Hilfe kam, und in Reims ganz besonders. Denn es liegt ja wohl auf der Hand, daß unsere Situation in einer von Ligisten und Spaniern verseuchten Stadt weiterhin äußerst prekär war. Auch wenn es uns geglückt war, aus unserem goldenen Kerker auszubrechen, waren wir der Schweinerei doch keineswegs entronnen, wie es mir Pissebœuf auf okzitanisch zum einen Ohr flüsterte und Quéribus zum anderen auf französisch, als wir in einem dunklen Kutschentor innehielten zur Beratung.
»So, seid Ihr nun zufrieden?« flüsterte sehr grantig mein schöner Höfling. »Draußen sind wir! Aber wohin jetzt?«
»Das versteht sich von selbst«, sagte ich, »zum Haus des Herzogs von Guise.«
»Und wo liegt besagtes Haus?«
»Nach Louisons Auskunft bei der Kathedrale.«
»Das ist sehr genau!« höhnte Quéribus, »wie beim jüdischen Schneider die Elle.«
»Mit Verlaub, Moussu«, sagte Pissebœuf, »sollten wir nicht besser zu dem Stadttor gehen, durch das wir hereinkamen? Wir könnten uns mit Leutnant Rousselet bereden, der uns führen könnte, wohin wir wollen.«
»Der doch übrigens versprochen hatte«, sagte ich, »Guise unsere Ankunft zu melden, aber anscheinend hat er’s nicht getan. Vielleicht konnte er nicht. Vielleicht ist er selbst eingesperrt worden. Ich meine, wir bleiben dem Tor besser fern, versuchen vielmehr, die Kathedrale zu finden, stellen uns dort unters Portal und warten, bis ein Diener oder Lakai in den Guise-Farben auftaucht, der uns das Haus seines Herrn ganz von selbst zeigen wird: Entweder es kommt einer heraus oder geht hinein.«
»Das läßt sich hören!« sagte Pissebœuf.
»Bei meinem Gewissen, diese Aufregungen bringen mich um!« zeterte Quéribus, unmutiger und unwirscher denn je; für die glanzlosen Wagnisse geheimer Missionen war er, wie gesagt, nicht der Mann. Und ehrlich gestanden, so gern ich ihn auch hatte, machte sein unbeherrschtes Betragen es mir in diesen Minuten sehr schwer, und schmerzlich vermißte ich meinen Miroul, der in allen Widrigkeiten kühlen Kopf behielt und immer einen Ausweg wußte.
»Und wen«, maulte Quéribus weiter, »sollen wir, ohne uns zu verraten, nun fragen, wie man zur Kathedrale kommt?«
»Mich natürlich, Herr Marquis«, sagte Pissebœuf. »Vertraut meiner Spürnase: Als ehemaliger Kirchendiener wittere ich Kirchen auf drei Meilen Entfernung.«
Der großmäulige Gascogner brauchte nicht lange zu wittern, die Kathedrale lag quasi vor unserer Nase, wie wir erkannten, als wir um eine Ecke bogen, denn das Haus Saint-Pauls grenzte unmittelbar an deren Kloster. Es waren also nur ein paar Schritte bis zum Domportal, wo aber bei unserem plötzlichen Auftauchen ein Halbdutzend schäbige und blutrünstig aussehende Kerle knurrten
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