Der Tag bricht an: Roman (Fortune de France) (German Edition)
die Truppen verteidigen, die Saint-Paul mir fraglos nachhetzen würde?«
Diese verzweifelten Worte lehrten mich, daß es mindestens ungehörig wäre, wenn ich Madame de Saint-Paul jetzt bitten würde, mir den Schlüssel zu geben, um mein Heil allein zu suchen. Und so sah ich sie eine Weile schweigend an.
»Madame«, sagte ich ernst, »Euer Unglück läßt mich nicht kalt. Ich begreife dessen ganzes Ausmaß. Aber, bitte, öffnet die Augen: Die Zeiten sind im Wandel begriffen. Herr von Guise ist mit dem Entschluß nach Reims gekommen, jene Autorität zurückzugewinnen, die Monsieur de Saint-Paul usurpiert hat. Es bahnt sich ein erbitterter Kampf zwischen ihnen an, der für den einen oder den anderen sogar tödlich enden kann. Ich habe genug gesagt, Madame«, setzte ich leise hinzu, »damit Ihr erkennt, auf welcher Seite ich stehe und wozu ich hier bin und daß ich mich aus allen Kräften bemühen und jede Gelegenheit nutzen werde, um diesem Kerker zu entkommen. Und sollte mir das glücken, Madame, das schwöre ich bei meiner Ehre, werde ich keine Ruhe kennen, bis ich auch Eure Flucht zum Guten geführt habe, mag Euer Gemahl tot oder am Leben sein.«
»Ha, Monsieur!« sagte Madame de Saint-Paul, indem sie aufsprang und mit gebreiteten Armen auf mich zutrat, neue Hoffnung, so schien mir, in den blauen Augen. »Ihr sollt den Schlüssel haben. Und ich kann sagen, daß mein Instinkt mich nicht trog, als er mir, und zwar auf der Stelle, eine Freundschaft für Euch einflößte, die, wie ich fühle, nur noch wachsen kann.«
Womit sie mir die Hände drückte und durch diesen Händedruck und den begleitenden Blick sagte, was ihre Worte offenließen. Und wenn der welterfahrene Leser nun meinen sollte, sie habe den Schwur, den ich ihr geleistet und von dem ja ihre Zukunft abhing, hiermit absichtlich beflügeln und in mir ein noch stärkeres Gefühl als Verehrung entfachen wollen, so wäre er entschuldbar. Ich hingegen will nichts von solchen Gedanken wissen. Wenn eine Dame mir andeutet, daß sie mich lieben könnte, erweckt dies in mir eine so köstliche Erregung, daß ich diese lieber, wenigstens für ein paar Tage, in der Schwebe lasse, als sie durch den weisen Skeptizismus im Keim zu ersticken,den man im Umgang mit den Menschen lernt. Das ist nicht willentliche Blindheit, sondern vielmehr der hellsichtige Schutz meiner Empfindungen. Denn mir scheint, daß man durch Vertrauen mehr Glück als durch Mißtrauen gewinnt. Zumindest habe ich dann das wunderbare Moment eines Liebesversprechens ausgekostet. Und erweisen sich der süße Blick der Schönen und ihre liebkosenden Hände später als Lug und Trug, kann ich ihr den Glauben und die Liebe immer noch entziehen.
DRITTES KAPITEL
Wer weiß, wie man auf die Idee kommt, daß ein Schurke ein besonders vorsichtiger Mensch sein muß. Fest steht vielmehr, daß es ziemlich unvorsichtige Schurken gibt, ja geradezu töricht unvorsichtige, aus übermäßiger Selbstgewißheit nämlich. Und ebendies war Saint-Pauls Achillesferse, wie es sich übrigens im weiteren Verlauf in unglaublichen Unverfrorenheiten zeigen sollte, die er sich gegen den Herzog von Guise herausnahm.
Hätte ich in seiner Haut gesteckt, wäre ich über das Verschwinden des Schlüssels, der die Tür zur Gasse öffnete, in größte Unruhe geraten, und selbst wenn ich einen zweiten dazu besessen hätte, was vermutlich der Fall war, hätte ich das Schloß doch umgehend auswechseln lassen. Er aber tat nichts dergleichen, sondern verließ sich darauf, daß die Etagentüren abgeschlossen waren. Allerdings mußte ihm eine Flucht von Madame de Saint-Paul aus den ehelichen Klauen ebenso unvorstellbar wie ihr selbst erscheinen, ohne Kutsche, ohne Kutscher, ohne Pferde, ohne Eskorte, vor allem aber ohne jede Aussicht, die Tore der Stadt zu passieren.
Als der Schlüssel, den Madame de Saint-Paul mir gegeben hatte, sich in meiner bebenden Hand drehte und geräuschlos das Schloß des Hinterausgangs öffnete, als ich die Klinke niederdrückte und der Flügel zur Gasse hin aufschwang, zog ich ihn rasch wieder heran, ohne auch nur einen Fuß hinauszusetzen, schloß wieder zu und lehnte die Stirn an die Tür, wie von Sinnen vor Freude. Denn dies, Leser, hieß ja nicht nur Freiheit für mich und meine fünf Gefährten, sondern auch, daß wir die heißersehnte Freiheit auf die eleganteste und für Saint-Paul rätselhafteste Weise erreichen konnten, weil er niemals erfahren würde, wie uns die Flucht gelang. Und nun, Leser,
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