Der Tag der Ameisen
richtete seinen Blick zum Himmel.
»Seit jeher hat es Menschen gegeben, die von Insekten fasziniert waren. Erstaunlich ist doch nur, daß ein solches Verhalten nicht schon früher aufgetreten ist. Ich habe unter diesen Morden sehr gelitten. Die meisten der Opfer waren Mitarbeiter und Freunde von mir. Doch wie dem auch sei, jetzt ist Mademoiselle Wells außerstande, Schäden anzurichten, und in wenigen Tagen werde ich Ihnen das Wundermittel vorstellen, das auf dem ganzen Planeten wirken kann und uns so teuer zu stehen gekommen ist. Sein Deckname lautet: Babel.
Wenn Sie mehr darüber wissen wollen, kommen Sie morgen zur gleichen Zeit hierher.«
Pfeifend ging Professor Cygneriaz zu Fuß in sein Hotel zurück. Er war zufrieden mit der Wirkung, die seine Ausführungen auf die Zuhörer gehabt hatten.
Als er in seinem Zimmer die Armbanduhr abnahm, bemerkte er in seiner Manschette ein kleines viereckiges Loch, achtete aber kaum darauf.
Er ruhte sich auf seinem Bett von den Strapazen des Tages aus, als er aus dem Badezimmer ein Geräusch kommen hörte.
Die Leitungen waren doch immer schadhaft, sogar in den besten Häusern!
Er stand auf, machte ruhig die Tür zum Badezimmer zu und entschied, daß es Zeit zum Essen war. Um in den Speisesaal zu gelangen, hatte er die Wahl zwischen dem Aufzug und der Treppe. Müde, wie er war, nahm er lieber den Aufzug.
Das war ein Fehler.
Die Anlage blieb zwischen zwei Stockwerken hängen.
Gäste, die in der nächsten Etage warteten, hörten, wie Miguel Cygneriaz Entsetzensschreie ausstieß und gleichzeitig mit aller Kraft gegen die Stahlwände hämmerte.
»Noch einer mit Platzangst«, sagte eine Frau.
Doch als ein Angestellter die Kabine wieder in Gang brachte, fand er nur mehr seine Leiche. Der Schreckensfratze nach zu urteilen, mußte der Mann mit dem Teufel gerungen haben.
105. TRÄUME
Jonathan schlief nicht. Seitdem die Gemeinschaftszeremonien so intensiv geworden waren, fiel es ihm immer schwerer, Schlaf zu finden.
Besonders gestern hatte er ein schreckliches Erlebnis gehabt. Während sie alle den Gemeinschaftslaut, die absolute Welle OM von sich gaben, hatte er etwas Außergewöhnliches empfunden. Sein ganzer Körper war von dieser Welle angesogen worden. Wie eine Hand, die sich aus einem Handschuh löst, hatte etwas in ihm versucht, sich aus seiner menschlichen Hülle zu befreien.
Jonathan hatte zwar Angst gehabt, doch hatte ihn die Anwesenheit der anderen zugleich beruhigt. So hatte er in Gestalt seines OM, oder, wenn man will, als Ektoplasma oder Seele seinen Körper verlassen und mit den anderen den Granitfelsen hinauf zum Ameisenhaufen durchquert.
Das Phänomen hatte nicht lang gedauert. Er war schnell wieder in seine fleischliche Hülle zurückgekehrt, als hätte ihn ein Gummiband zurückgezogen.
Es war ein kollektiver Traum gewesen. Das konnte nur ein kollektiver Traum gewesen sein.
Da sie alle in der Nähe der Ameisen lebten, träumten sie alle von ihnen. Er erinnerte sich an einen Abschnitt in der Enzyklopädie, die von den Träumen handelte. Er machte sich mit Hilfe einer Taschenlampe daran, auf dem Pult die Seiten des kostbaren Buches umzublättern.
106. ENZYKLOPÄDIE
TRAUM: Im hintersten Winkel eines malaiischen Waldes lebte ein Stamm von Eingeborenen, die Senoi. Sie bauten ihr ganzes Leben um ihre Träume herum auf. Sie wurden übrigens
»Traumvolk« genannt.
Jeden Morgen saßen sie beim Frühstück um das Feuer herum, und jeder redete nur von den Träumen der vergangenen Nacht.
Wenn ein Senoi geträumt hatte, einem anderen Schaden zugefügt zu haben, mußte er dem Betroffenen ein Geschenk machen. Wenn er geträumt hatte, von einem der Anwesenden geschlagen worden zu sein, mußte der Angreifer sich entschuldigen und ihm etwas schenken, um Verzeihung zu erlangen.
Bei den Senoi galt die Traumwelt als reicher an Lehren als das wirkliche Leben. Wenn ein Kind geträumt hatte, einen Tiger gesehen zu haben und vor ihm geflohen zu sein, gab man ihm auf, in der folgenden Nacht abermals von der Raubkatze zu träumen, gegen sie zu kämpfen und sie zu töten. Die Alten erklärten ihm, wie es das zu bewerkstelligen hatte. Wenn es dem Kind daraufhin nicht gelang, mit dem Tiger fertig zu werden, wurde es vom ganzen Stamm getadelt.
Wenn man im Wertesystem der Senoi von sexuellen Beziehungen träumte, mußte man bis zum Orgasmus gelangen und danach in der Wirklichkeit dem oder der gewünschten Geliebten mit einem Geschenk danken. Gegenüber den
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