Der Tag der Ameisen
Fröhlich ahmt sie ein Duell gegen eine eingebildete Gegnerin nach und zählt die ausgeteilten Hiebe auf. Hier ein Mühlumschwung, ein Degenstoß, eine Quartdeckung, eine Quintdeckung, eine Primdeckung, eine Parade nach rechts.
Das Ende ihres Hinterleibs ist nurmehr eine Flügeldicke vom Kopf der Ameise entfernt. Als diese sich jedoch nicht übermäßig beeindruckt zeigt, setzt die Königin ihre Beschreibung der Schlacht fort. Ausfall rückwärts, kurze Bindung, doppelte Übertragung, Angriffsverlängerung, Nachhieb …
Nr. 23 unterbricht sie und erklärt unnachgiebig, die Bienen seien ganz im Gegenteil sehr von diesem Ameisen-Finger-Krieg betroffen. Nr. 103, eine ihrer erfahrensten Kriegerinnen, habe entdeckt, daß man die Finger mit Bienengift töten könne.
Im Augenblick könne man sie nur damit töten.
Der Kreuzzug werde daher notgedrungen Askolein angreifen, um sich das Gift zu holen.
Ameisen? Die uns so weit weg von ihrer Föderation angreifen? Du bist ja nicht bei Sinnen!
In diesem Augenblick wird in allen Waben des goldenen Bienenstocks Kriegsalarm geschlagen.
104. DIE INSEKTEN SIND UNS NICHT WOHLGESONNEN
Jetzt war Professor Miguel Cygneriaz an der Reihe, dem Seminar seinen Beitrag über den Kampf gegen die Insekten vorzutragen. Er stand auf und stellte dem Publikum eine Weltkarte voller schwarzer Flecken vor: »Diese schwarzen Punkte stellen Kriegsgebiete dar, nicht zwischen Menschen, sondern gegen Insekten. Überall kämpfen wir gegen die Insekten. In Marokko, in Algerien, in Senegal bekämpfen wir die Heuschreckeninvasionen. In Peru wird von den Moskitos die Malaria übertragen, in Ostafrika bekommt man von der Tsetsefliege die Schlafkrankheit, in Mali hat eine Läuseplage eine Typhusepidemie ausgelöst. Im Amazonasgebiet, in Äquatorialafrika, in Indonesien kämpfen die Menschen gegen die Invasion von Magnan-Ameisen. In Libyen werden die Kühe von der Rinderbremse hingerafft. In Venezuela gehen wild gewordene Wespen auf Kinder los. In Frankreich wurde, ganz hier in der Nähe, im Wald von Fontainebleau, mitten bei einem Picknick eine Familie von einer Kolonne Roter Ameisen angegriffen. Und von den Kartoffelkäfern, die die Kartoffelpflanzungen zerstören, will ich gar nicht reden; ebensowenig von den Termiten, die an den Holzhäusern knabbern, bis diese über ihren Bewohnern zusammenfallen, den Motten, die sich von unserer Kleidung ernähren, den Schaben, die über unsere Hunde herfallen … So sieht die Wirklichkeit aus. Seit einer Million Jahren befindet sich der Mensch im Kriegszustand gegen die Insekten, und der Kampf hat erst angefangen. Da der Gegner klein ist, wird er unterschätzt. Man glaubt, ein Klaps genügt, um ihn zu zerquetschen. Irrtum! Die Insekten lassen sich nur schwer ausrotten. Sie passen sich an Gifte an, sie mutieren, um widerstandsfähiger gegen Insektizide zu werden, sie vervielfachen sich, um den Versuchen zu ihrer Ausrottung zu entgehen. Die Insekten sind unsere Feinde. Doch neun von zehn Tieren sind Insekten. Es gibt nur eine Handvoll Menschen, ja Säugetiere im Vergleich zu Milliarden und Abermilliarden von Ameisen, Termiten, Fliegen, Moskitos.
Unsere Vorfahren hatten ein Wort, um diese Feinde zu bezeichnen. Sie nannten sie die chtonischen Kräfte, die Kräfte der Erde. Die Insekten vertreten die chtonischen Kräfte, das heißt alles, was niedrig, kriechend, unterirdisch, versteckt, unvorhersehbar ist!«
Jemand meldete sich.
»Professor Cygneriaz, wie kann man die chto … die Insekten, meine ich, bekämpfen?«
Der Wissenschaftler lächelte in sein Publikum.
»Erst einmal dadurch, daß wir aufhören, sie zu unterschätzen.
So haben wir in meinem Labor in Santiago de Chile entdeckt, daß die Ameisen ›Vorkosterinnen‹ aufgestellt haben. Jedesmal, wenn ein Ameisenhügel es mit neuer Nahrung zu tun bekommt, haben sie die Aufgabe, diese zu probieren. Wenn sie nach zwei Tagen kein verdächtiges Symptom aufweisen, verspeisen ihre Schwestern ihrerseits die neue Nahrung. Dies erklärt die begrenzte Wirkung der meisten Insektizide mit organischem Phosphor. Wir haben daher ein neues Insektizid mit Langzeitwirkung entwickelt, das erst zweiundsiebzig Stunden nach seiner Einnahme zu wirken beginnt. Wir hoffen, daß dieses neue Gift sich trotz der Sicherheitsvorkehrungen in der Ameisenstadt ausbreitet.«
»Professor Cygneriaz, was halten Sie von Laetitia Wells, der Frau, der es gelungen ist, Ameisen so abzurichten, daß sie die Insektizidforscher töten?«
Der Experte
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