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Der Tag der Ameisen

Der Tag der Ameisen

Titel: Der Tag der Ameisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Werber
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weicht Nr. 103 einem zweiten Schlag aus. Ihre Gegnerin wird vom eigenen Schwung fortgerissen, und sie nutzt die Gelegenheit, um ihr ein Fühlerende abzuzwicken.
    Lassen wir diesen überflüssigen Kampf! Es sind doch nur noch wir übrig. Willst du denn das Werk der Götter vollkommen machen?
    Nr. 9 ist jenseits jeglicher Vernunft. Alles, was sie will, ist, ihre heile Antenne in das Kugelauge der Verräterin zu bohren.
    Knapp verfehlt sie ihr Ziel. Nr. 103 will mit Säure schießen, sie bringt ihren Hinterleib in Stellung und feuert einen ätzenden Tropfen ab, der sich im Hosenschlag eines Briefträgers verliert.
    Auch Nr. 9 schießt, und nun ist der Giftbeutel von Nr. 103 leer. Die Herausforderin glaubt den Moment gekommen, um ihrer Beute den Garaus zu machen, doch die Soldatin ist noch nicht am Ende ihrer Kräfte. Mit weitaufgerissenen Kieferzangen rast sie los, schnappt sich das mittlere linke Bein von Nr. 9 und reißt es nach hinten.
    Nr. 9 macht mit dem rechten Hinterbein von Nr. 103 das gleiche. Jetzt kommt’s darauf an, wer wem zuerst ein Glied ausreißt.
    Nr. 103 erinnert sich an eine ihrer Kampflektionen.
    Wenn man fünfmal auf die gleiche Art angreift, wettet die Gegnerin darauf, daß der sechste Angriff genauso wie die fünf vorigen ausfällt. Dann kann man sie leicht überraschen.
    Fünfmal schlägt Nr. 103 mit ihrer Fühlerspitze auf den Mund von Nr. 9 ein. Jetzt braucht sie nur noch auszunutzen, daß die andere die Mandibeln eingezogen hat, um ihr an den Hals zu springen. Mit einem trockenen Schlag köpft sie die Ameise.
    Der Kopf von Nr. 9 kugelt über das schmierige Pflaster.
    Er bleibt liegen. Die Gegnerin kommt näher, um ihn zu betrachten. Die besiegten Antennen zappeln. Bei den Ameisen bewahren alle Körperteile selbst nach dem Tod eine gewisse Unabhängigkeit.
    Du täuschst dich, Nr. 103, meint der Schädel von Nr. 9.
    Die Soldatin hat den Eindruck, schon einmal eine Szene mit einem Schädel erlebt zu haben, der seine letzte Botschaft loswerden wollte. Doch das war weit von hier und die Botschaft eine andere. Es war auf der Müllhalde von Belokan, und was ihr die Rebellin damals gesagt hatte, hat den Lauf ihres Daseins völlig verändert.
    Die Antennen der Toten von Nr. 9 bewegen sich weiter.
    Du täuschst dich, Nr. 103. Du meinst, man kann mit allen umspringen, wie man will, aber das geht nicht. Man muß sich entscheiden. Entweder bist du für die Ameisen oder du bist für die Finger. Mit hübschen Einfällen entgeht man der Gewalt nicht. Der Gewalt entgeht man nur durch Gewalt. Heute hast du gewonnen, weil du stärker warst als ich. Bravo. Doch einen Rat will ich dir geben: Werde nie schwächer, denn dann wird dich keines deiner schönen abstrakten Prinzipien retten.
    Nr. 23 kommt herbei und schießt in den zu geschwätzigen Schädel. Sie gratuliert der Soldatin und reicht ihr den Kokon.
    Nun, du weißt, was dir zu tun bleibt.
    Das weiß Nr. 103.
    Und du?
    Nr. 23 antwortet nicht gleich. Sie weicht aus. Sie gibt sich als Dienerin der Fingergötter aus. Die Finger würden ihr schon sagen, was sie tun soll, wenn es soweit ist. In der Zwischenzeit werde sie durch die Welt jenseits der Welt schweifen.
    Nr. 103 wünscht ihr viel Glück. Dann besteigt die Soldatin
    »Großes Horn«. Sie hält sich an seinen Antennen fest. Der Käfer klappt seine Deckflügel hoch und entfaltet seine langen, braunen Flügel. Kontakt. Die von Nerven durchzogenen Segel bauschen sich in der verschmutzten Luft von Fingerland. Nr. 103 startet und eilt auf den Gipfel des ersten Fingernests zu, das vor ihr steht.

     

165. DER HERR DER HEINZELMÄNNCHEN
     
    Es war Morgen geworden, doch Laetitia Wells und Jacques Méliès hörten noch immer wie gebannt Juliette Ramirez bei der Erzählung ihrer ungewöhnlichen Geschichte zu.
    Sie wußten bereits, daß der Mann, der wie ein pensionierter Weihnachtsmann aussah, ihr Gatte Arthur Ramirez war. Sie erfuhren, daß er schon als Kind ein leidenschaftlicher Bastler gewesen war. Er stellte Spielzeug her: Flugzeuge, Autos, Schiffe, die er mit einer Fernbedienung steuerte. Gegenstände und Roboter gehorchten dem geringsten seiner Befehle. Seine Freunde hatten ihm den Spitznamen »Herr der Heinzelmännchen« gegeben.
    »Jeder Mensch hat eine Gabe, die er nur auszubauen braucht.
    Ich habe zum Beispiel eine Freundin, die eine Künstlerin im Kreuzstichsticken ist. Ihre Teppiche sind …«
    Doch ihren Zuhörern waren die Wunder, die man mit der Kreuzstichstickerei vollbringen konnte, völlig

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