Der Tag der Ameisen
zu benutzen, und wie die Zeiten heute sind, werden solche Menschen rar«, klagte der Präfekt. »Sie sollten daher wissen, daß ich, falls Sie sich in das Abenteuer Politik stürzen wollen, der erste sein werde, der Sie dabei unterstützt.«
Jacques Méliès erwiderte, daß ihn an einem Rätsel das Abstrakte und Zufällige reize. Er werde sich niemals dazu hergeben, Macht zu erobern. Die anderen zu beherrschen, sei zu ermüdend. Was sein Gefühlsleben angehe, so sei es darum nicht gar so schlecht bestellt, und er ziehe es vor, daß es seine Privatsache bleibe.
Der Präfekt Dupeyron lachte aus vollem Herzen, legte ihm die Hand auf die Schulter und versicherte ihm, daß er in seinem Alter ganz genauso gedacht habe. Doch später habe er sich geändert. Nicht das Bedürfnis, die anderen zu beherrschen, habe ihn angetrieben, sondern das Bedürfnis, von niemandem beherrscht zu werden.
»Man muß reich sein, um das Geld verachten zu können, man muß Macht haben, um die Macht verachten zu können.«
Als er jung war, hatte Dupeyron es daher akzeptiert, die Stufen der menschlichen Hierarchie eine nach der anderen zu erklimmen. Jetzt weiß er sich gegen alles gefeit, er fürchtet die Zukunft nicht mehr, er hat zwei Erben gezeugt und in eine der teuersten Privatschulen der Stadt gesteckt, er besitzt eine Luxuslimousine, viel Freizeit und ist von Hunderten von Höflingen umgeben. Was will man mehr?
»Ein Kind bleiben, das von Krimis begeistert ist«, dachte Méliès, behielt es jedoch lieber für sich.
Als das Gespräch beendet war und der Kommissar die Präfektur verließ, bemerkte er in der Nähe des Gitterzauns eine riesige Tafel voller Wahlplakate mit diversen Parolen: »Für eine Demokratie der wahren Werte, wählen Sie die Sozialdemokraten!« »Nein zur Krise! Genug mit den falschen Versprechungen. Schließen Sie sich der Bewegung der radikalen Republikaner an!« »Retten Sie den Planeten –
Unterstützen Sie die nationalökologische Erneuerungsbewegung!« »Erhebt Euch gegen die Ungerechtigkeiten! Kommt zur unabhängigen Volksfront!«
Und überall die gleichen Gesichter gutgenährter Typen, die ihre Sekretärin zur Geliebten haben und sich für den Boß halten! So einer sollte er dem Rat des Präfekten nach werden.
Ein Würdenträger!
Für Méliès bestand kein Zweifel. Zum Teufel mit den Ehren, lieber waren ihm sein Lotterleben, sein Fernseher und seine polizeilichen Untersuchungen. »Wenn du keine Scherereien bekommen willst, hab keinen Ehrgeiz«, pflegte sein Vater zu empfehlen. Keine Wünsche, keine Qualen. Heutzutage würde er vielleicht hinzufügen: »Hab nicht den gleichen Ehrgeiz wie alle diese Schwachköpfe, denk dir ein eigenes Streben aus, das über das platte Leben hinausgeht.«
Jacques Méliès war bereits zweimal verheiratet gewesen, und beide Male hatte er sich scheiden lassen. Mit Vergnügen hatte er an die fünfzig Fälle gelöst. Er besaß eine Wohnung, eine Bibliothek, einen Freundeskreis. Damit war er zufrieden.
Jedenfalls gab er sich damit zufrieden.
Über die Place du Poids-de-l’Huile, die Avenue du Maréchal-de-Lattre-de-Tassigny und die Rue de la Butte-aux-Cailles ging er zu Fuß nach Hause.
Überall um ihn herum liefen die Leute in alle Richtungen, hupten nervöse Autofahrer, klopften Frauen an den Fenstern lärmend ihre Teppiche. Gören verfolgten und beschossen einander mit Wasserpistolen. »Peng, peng, peng, ihr seid alle drei tot!« kreischte einer von ihnen. Diese Kinder, die gerade Räuber und Gendarm spielten, erzürnten Jacques Méliès zutiefst.
Er kam vor seinem Wohnhaus an. Es war ein großer Komplex, der ein vollkommenes Quadrat von hundertfünfzig Metern Länge und Breite bildete. Um die Fernsehantennen flatterten Raben. Wie immer lag die Concierge in ihrer Loge auf der Lauer und streckte den Kopf durch das Fenster.
»Guten Tag, Monsieur Méliès! Wissen Sie, ich hab in der Zeitung hier gelesen, was über Sie gesagt wird. Die sind doch bloß neidisch!«
Er war erstaunt: »Wie bitte?«
»Ich bin mir jedenfalls sicher, daß Sie recht haben.«
Zu seiner Wohnung hinauf nahm er jeweils vier Stufen auf einmal. Dort erwartete ihn wie gewöhnlich Marie-Charlotte.
Sie liebte ihn leidenschaftlich, und wie jeden Tag hatte sie ihm seine Zeitung geholt. Als er die Tür aufmachte, hatte sie sie bereits zwischen den Zähnen. »Laß das los, Marie-Charlotte!« befahl er ihr.
Sie gehorchte ihm auf der Stelle, und Méliès stürzte sich fieberhaft auf das Sonntagsecho. Er
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