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Der Tag der Ameisen

Der Tag der Ameisen

Titel: Der Tag der Ameisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Werber
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geblieben.
    Der Journalismus hatte es ihr möglich gemacht, ihren Haß mit ihrem tiefsten Streben zu vereinbaren. Mit ihrer Feder konnte sie Ungerechtigkeiten anzeigen, die Massen aufhetzen.
    Heuchlern den Garaus machen. Leider hatte sie schnell gemerkt, daß unter den Heuchlern an vorderster Stelle ihre Arbeitskollegen standen. Groß beim Reden, mit Taten klein. In ihren Leitartikeln geißelten sie das Unrecht, doch für das Versprechen einer Gehaltserhöhung waren sie sofort zu den schlimmsten Niederträchtigkeiten bereit. Im Vergleich zur Medienwelt kam ihr das Ärztemilieu vor wie ein Hort reizender Menschen.
    Doch bei der Presse hatte sie sich ihre ökologische Nische geschaffen, ihr Jagdgebiet. Sie hatte sich mit der Auflösung einiger rätselhafter Verbrechen einen Namen gemacht. Im Augenblick hielten ihre Kollegen Abstand, warteten ihren Sturz ab. Sie durfte nicht straucheln.
    Als nächste Trophäe würde sie an ihre Jagdtafel den Fall Salta-Nogard heften. Pech für den eifrigen Kommissar Méliès! Endlich kam die Endstation. Sie stieg aus.
    »Schönen Abend, Mademoiselle«, sagte die Strickerin zu ihr und räumte ihre Babykleidung weg.
     

54. ENZYKLOPÄDIE
     
    WIE: Vor einem Hindernis besteht der erste Reflex eines Menschen darin, sich zu fragen: »Warum gibt es dieses Problem und wer ist daran schuld?« Er sucht die Schuldigen und die Strafe, die man ihnen auferlegen sollte, damit dies nicht wieder vorkommt.
    In der gleichen Situation fragt die Ameise sich zuerst: »Wie und mit wessen Hilfe kann ich dieses Problem lösen?«
    In der Ameisenwelt gibt es nicht den geringsten Begriff von Schuld.
    Es wird immer einen großen Unterschied zwischen denen geben, die sich fragen: »Warum klappt das nicht?«, und denen, die sich fragen: »Wie sollen wir es anstellen, daß es klappt?«
    Derzeit gehört die Menschenwelt zu denen, die sich fragen.
    »Warum?«, aber es kommt der Tag, an dem die, die sich fragen, »Wie?«, die Macht übernehmen werden …
    Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Bd. 2

55. WASSER, WASSER, NICHTS ALS WASSER
    Zäh arbeiten Krallen und Kiefer. Graben und weiter graben, einen anderen Ausweg gibt es nicht. Um die verbissenen Rebellinnen herum bebt und zittert der Boden.
    Das Wasser fegt durch die ganze Stadt. Alle schönen Vorhaben, alle großartigen, fortschrittlichen Umsetzungen von Chli-pu-ni sind nur mehr Trümmer, die von den Fluten fortgetragen werden. Eitelkeiten, es waren also nichts als Eitelkeiten, die Gärten, die Pilzkulturen, die Ställe, die Zisternensäle, die Winterspeicher für das Getreide, die wärmeregulierten Krippen, das Solarium, die Wassernetze …
    Sie verschwinden in dem Orkan, als wären sie nie dagewesen.
    Plötzlich explodiert eine Seitenwand des Hilfstunnels. Das Wasser schießt in Strömen herein. Nr. 103 683 und ihre Gefährtinnen werfen sich ins Zeug, um noch schneller voranzukommen. Aber die Aufgabe ist unmöglich, und der Sog erfaßt sie.
    Nr. 103 683 macht sich keine Illusionen über das Schicksal, das sie alle erwartet. Sie sind schon bis zum Bauch naß, und das Wasser steigt rasch weiter.

56. UNTERTAUCHEN
    Untertauchen. Sie war jetzt vollkommen von den Fluten bedeckt.
    Sie konnte nicht mehr atmen. Sie blieb eine ganze Weile im Naß und dachte an nichts mehr.
    Sie liebte das Wasser.
    Unter dem Wasser ihrer Badewanne quollen ihre Haare, ihre Haut wurde wie Karton. Laetitia Wells nannte das ihr tägliches Baderitual.
    So entspannte sie sich: ein wenig warmes Wasser und Stille.
    Sie fühlte sich ganz wie die Prinzessin vom See.
    Jeden Tag blieb sie ein bißchen länger unter Wasser.
    Sie zog ihre Knie bis ans Kinn hoch wie ein Fötus in seinem Fruchtwasser und wiegte sich langsam in einem Wassertanz, dessen Sinn sie allein kannte.
    Sie fing an, sich den Kopf von allem Mist frei zu machen: fort mit dem Krebs, fort mit den Saltas (Ding, Dong), fort mit der Redaktion des Sonntagsechos , fort mit ihrer Schönheit (Ding, Dong), fort mit der Metro, fort mit den Gebärerinnen.
    Das war das große Sommerreinemachen.
    Ding, Dong.
    Sie tauchte aus dem Wasser auf. Außerhalb des Wassers wirkte alles trocken. Trocken, feindlich (Ding, Dong) … laut.
    Sie hatte nicht geträumt. Es läutete an der Tür.
    Sie kletterte aus der Badewanne, wie ein Lurch, der die Luftatmung entdeckt.
    Sie nahm einen großen Bademantel, hüllte sich darin ein und ging mit kurzen Schritten ins Wohnzimmer.
    »Wer ist da?« fragte sie durch die Tür.
    »Polizei!«
    Sie

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