Der Tag der Ameisen
Ihnen angetan haben: Sie zur Welt zu bringen. Hören Sie auf, einander zu lieben. Wachsen Sie, aber vermehren Sie sich nicht.«
Bei ihren Anfällen von Misanthropie (in ihrem Stadium war es bereits Menschheitsphobie) blieb ihr jedesmal ein bitterer Geschmack im Mund. Doch das verwirrendste daran war, daß sie das nicht einmal als unangenehm empfand.
Sie faßte sich wieder, lächelte der Fadenspinne zu.
Dieses Gesicht ihr gegenüber, das vor Mutterglück strahlte, erinnerte sie, nein … es durfte nicht … es erinnerte sie … an ihre eigene Mutter. Ling-Mi.
Ling-Mi war an Leukämie erkrankt. Der Blutkrebs kennt keine Gnade. Ling-Mi, ihre sanfte Mutter, die ihr nie Antwort gab, wenn sie fragte, was der Arzt gesagt habe. Zu Laetitia sagte Ling-Mi immer wieder: »Mach dir keine Sorgen. Ich werde wieder gesund. Die Ärzte sind Optimisten und die Medikamente werden immer wirksamer.« Aber im Waschbecken gab es oft rote Spuren, und das Röhrchen mit Schmerzmitteln war meistens leer. Ling-Mi überschritt alle vorgeschriebenen Dosen. Dann linderte nichts mehr ihre Schmerzen.
Eines Tages war ein Krankenwagen gekommen und hatte sie in die Klinik gebracht. »Reg dich nicht auf. Dort haben sie alle nötigen Geräte und Spezialisten, um mich wieder gesund zu machen. Paß auf die Wohnung auf, sei brav, wenn ich nicht da bin, und besuch mich jeden Abend.«
Ling-Mi hatte recht gehabt: Im Krankenhaus hatten sie alle möglichen Maschinen. So daß es ihr nicht zu sterben gelang.
Dreimal hatte sie versucht, Selbstmord zu begehen, und dreimal hatte man sie in letzter Minute gerettet. Sie wehrte sich. Sie hatten sie mit Riemen bewegungsunfähig gemacht und mit Morphium vollgepumpt. Als Laetitia ihre Mutter besuchte, sah sie genau, daß ihre Arme von den Spritzen und Transfusionen voller Hämatome waren. Innerhalb eines Monats war Ling-Mi Wells zu einer alten, verschrumpelten Frau geworden. »Wir retten sie, machen Sie sich keine Sorgen, wir retten sie«, versicherten die Ärzte. Aber Ling-Mi wollte nicht gerettet werden.
Sie hatte ihre Tochter am Arm gefaßt und gemurmelt: »Ich will … sterben.« Aber was kann ein Mädchen von vierzehn Jahren schon tun, wenn seine Mutter ihm eine solche Bitte vorträgt? Das Gesetz verbot es, jemanden sterben zu lassen.
Vor allem wenn der oder die Betreffende die tausend Francs täglich für die Zimmerkosten einschließlich Pflege und Vollpension bezahlen konnte.
Edmond Wells war seit der Einlieferung seiner Frau ins Krankenhaus ebenfalls gealtert. Ling-Mi hatte ihn um Hilfe für den großen Sprung gebeten. Eines Tages, als sie es nicht mehr aushielt, fügte er sich schließlich. Er brachte ihr bei, wie man seinen Atem und die Herzschläge verlangsamt.
Er hatte sich auf eine Hypnosesitzung eingelassen. Natürlich war bei der Szene keiner dabei, aber Laetitia wußte, wie ihr Vater sich verhalten hatte, um ihr beim Einschlafen zu helfen:
»Du bist ruhig, ganz ruhig. Dein Atem ist wie eine Welle, die vor und zurück rollt. Ganz sanft. Vor und zurück. Dein Atem ist ein Meer, das sich in einen See verwandeln will. Vor und zurück. Jedes Atmen ist langsamer und tiefer als das vorhergehende. Jedes Einatmen gibt dir mehr Kraft und Sanftheit. Du spürst deinen Körper nicht mehr, du spürst deine Füße nicht mehr, du spürst deine Hände nicht mehr, deinen Oberkörper, deinen Kopf. Du bist eine leichte, gefühllose Feder, die im Wind treibt.«
Ling-Mi war davongeflogen.
Auf ihrem Gesicht hatte sich ein heiteres Lächeln abgezeichnet. Sie war gestorben, als wäre sie eingeschlafen.
Die Ärzte des Wiederbelebungsdienstes hatten sofort die Alarmglocken schrillen lassen. Sie hatten sich auf sie gestürzt wie Wiesel, die einen Reiher am Fortschweben hindern wollen.
Doch diesmal hatte Ling-Mi glatt gewonnen.
Danach hatte Laetitia ein persönliches Rätsel zu lösen gehabt: Krebs. Und eine fixe Idee: ihren Haß auf die Ärzte und andere, die über das Schicksal der Menschheit bestimmten. Sie war davon überzeugt, wenn es niemandem gelungen war, den Krebs auszurotten, so lag das daran, daß niemand ein echtes Interesse an einer Lösung hatte.
Um ein reines Gewissen zu haben, wäre sie sogar selbst Krebsspezialistin geworden. Sie wollte beweisen, daß der Krebs nicht unbesiegbar ist, sondern die Ärzte unfähig waren und ihre Mutter hätten retten können, anstatt sie noch mehr zu belasten. Aber sie war gescheitert. Jetzt war ihr nur noch ihr Haß auf die Menschen und ihre Leidenschaft für Rätsel
Weitere Kostenlose Bücher