Der Tag der Ameisen
verstecken!
Gemeinsam erheben sich die Finger gen Himmel, überlagern sich, so daß nur noch ein einzelner hervorsticht. Der ist gespannt wie ein Sporn. Sein rosafarbenes, plattes Ende verfolgt die Kundschafterinnen und zerdrückt sie problemlos.
Instinktiv versteckt Nr. 103 sich mutig, aber nicht waghalsig, in einer Art großer beiger Höhle.
Alles ist so schnell gegangen, daß sie keine Zeit gehabt hat, sich richtig klar darüber zu werden, was passiert ist. Indessen hat Nr. 103 sie sehr wohl wiedererkannt.
Das waren … Finger!
Die Angst kehrt in einer zweiten, noch schärferen Welle zurück.
Diesmal kann sie an nichts Schrecklicheres denken, um ihre Angst auszuschalten. Sie sieht sich dem gegenüber, was am schrecklichsten, unverständlichsten und vielleicht mächtigsten auf der Welt ist. FINGERN!
Die Angst ist überall in ihrem Körper. Sie zittert, sie ringt nach Atem.
Es ist sonderbar: Auf Anhieb hat sie es nicht so recht verstanden, aber jetzt, da sie beschützt ist, in der Ruhe ihres provisorischen Unterschlupfs, da erreicht die Angst den höchsten Grad. Da draußen sind eine Menge Finger, die abrechnen wollen.
Und wenn die Finger Götter sind?
Sie hat ihnen getrotzt, sie sind zornig. Sie ist nur eine armselige Ameise, die sterben wird. Chli-pu-ni hatte recht, sich aufzuregen, niemals hätte jemand geahnt, sie so nah bei der Föderation anzutreffen! Sie haben also das Ende der Welt überschritten und fallen in den Wald ein!
Nr. 103 dreht in der warmen, beigen Höhle eine Runde. Sie klopft hysterisch mit ihrem Hinterleib, um den ganzen Streß loszuwerden, den sie seit ein paar Sekunden angehäuft hat.
Sie braucht lange, um ihre Selbstbeherrschung wiederzugewinnen, dann, als die Angst sich ein wenig verzogen zu haben scheint, sieht sie sich vorsichtigen Schritts diese seltsame Höhle mit den Gewölbebögen an. Das Innere ist von schwarzen Lamellen geschmückt. Sie schwitzen warmes, geschmolzenes Fett. Das Ganze sondert einen ekelerregenden, muffigen Geruch an der Grenze des Erträglichen ab.
»Schneide das gebratene Huhn auf. Es sieht so lecker aus.«
»Wenn uns doch bloß diese Ameisen in Ruhe ließen!«
»Ich habe schon eine Menge umgebracht.«
»Na ja, du mit deiner Natur, du bist schuld daran! Schau, da und dort sind auch noch welche.«
Nr. 103 überwindet ihren Abscheu, durchquert die warme Grotte und kapselt sich an einem Ende ein.
Sie streckt ihre Antennen aus und erlebt tatsächlich das Unglaubliche. Die rosafarbenen Kugeln, schreckliche Räuber, spüren alle ihre Gefährtinnen auf. Sie stöbern sie unter den Gläsern auf, unter den Tellern, unter den Servietten, dann machen sie mit ihrem Leben kurzen Prozeß.
Es ist ein Blutbad.
Einige versuchen, auf ihre Angreifer Säurestrahlen abzufeuern. Vergebens. Die rosaroten Kugeln fliegen, springen, hüpfen überall herum, lassen ihren winzigen Gegnerinnen keine Chance.
Dann wird alles ruhig.
Die Luft ist von den Ölsäuregerüchen erfüllt, die den Ameisentod anzeigen.
Die Finger patrouillieren in Fünfergruppen über das Tischtuch.
Den Verwundeten wird der Rest gegeben, sie werden zu Fladen zermalmt und weggekratzt, damit es keine Flecken gibt.
»Iebhing, ib mir ie oße Schere.«
Plötzlich zertrümmert eine riesige Spitze die Decke der Höhle und zieht mit ohrenbetäubendem Krachen die Ränder auseinander.
Nr. 103 schreckt hoch. Sie macht einen Satz nach vorn.
Schnell. Fliehen. Schnell. Schnell. Da oben sind die gräßlichen Götter.
Sie galoppiert, was ihre sechs Beine hergeben.
Die rosa Säulen brauchen eine Zeitlang zum Reagieren.
Sie scheinen vollkommen fassungslos, sie dort herauskrabbeln zu sehen. Sie machen sich sofort an ihre Verfolgung.
Nr. 103 probiert alle Tricks. Sie schlägt enge Haken und macht auf halbem Weg kehrt. Ihre Herzkammer pocht zum Zerbersten, aber noch lebt sie. Vor ihr fallen zwei Säulen herunter. Durch das Sieb ihrer Augen sieht sie zum ersten Mal die fünf riesenhaften Silhouetten sich vor dem Horizont abzeichnen. Sie wittert ihre scharfen Gerüche. Die Finger patrouillieren. Entsetzlich.
Da löst sich in ihrem Kopf etwas. Sie hat solche Angst, daß sie das Undenkliche tut. Reiner Wahnsinn. Anstatt zu fliehen, springt sie auf ihre Verfolger!
Der Überraschungseffekt ist vollkommen.
Geschwind klettert sie an den Fingern hoch. Eine Rakete auf einem Trampolin. Oben auf dem Berg angekommen, springt sie ins Leere.
Ihr Sturz wird von den rosa Kugeln aufgefangen.
Sie schließen sich, um sie
Weitere Kostenlose Bücher