Der Tag der Dissonanz
aber es ist die Sache wert. Außerdem meinte Brungunt, daß das Mädchen aus freien Stücken handeln muß, weil die Magie sonst nicht wirkt.«
»So ist es«, stimmte der Wolf ihm zu und nickte. »So wird berichtet.«
»Deshalb ist es rundum besser so«, beendete Hathcar das Gespräch.
Seidi stand wartend da und zählte die Minuten, um den Freunden des Einhorns Zeit zu lassen, ihre Überraschung vorzubereiten. Dann schlenderte sie auf die kleine Lichtung vor dem verfallenen Gebäude hinaus. Sie hatte ihr bestes Kleid an. Es schmiegte sich eng an ihre knospende Gestalt, als sie sich bewegte. Ihre Mutter hatte fünfzehn Minuten damit verbracht, das lange kastanienbraune Haar auszukämmen, damit ihre Tochter auch bestimmt so gut wie möglich aussah. Der alte Wolf hatte darauf bestanden.
Zwei Goldstücke. Damit würde sich die Familie eine Menge Dinge kaufen können. Süßigkeiten eingeschlossen. Sie beschloß, sich genau an die Weisungen des Kuskus zu halten, selbst wenn er gelogen haben sollte, was die angeblich geplante Überraschung anging. Schließlich bedeutete ihr der Gehörnte nichts.
Dennoch zitterte sie leicht bei dem Gedanken, einem leibhaftigen Einhorn gegenüber zutreten, als sie in das silbrige Mondlicht hinaustrat. Es gab viele Geschichten, die man sich über die scheuen, einsamen Vierbeiner erzählte. Sie blieben tief im Wald unter sich, mieden die Zivilisation und auch intelligente Gesellschaft.
Die uralten Steine vor ihr schwiegen. Sollte sie rufen? Aber was? »He, Einhorn«? Es war niemand mehr da, um sie zu beraten, denn Hathcar war zusammen mit seinen anderen Freunden zwischen den Bäumen verschwunden, außer Sicht und außer Witterung. Der alte Wolf hatte ihr versichert, daß sie sich der Ruine nur zu nähern brauchte, und das Einhorn würde von alleine zu ihr herauskommen. Würde herauskommen und ihr zum Teich folgen. Wo die Überraschung wartete.
Sie blieb vor der Ruine stehen und wartete. Im Inneren des Gebäudes gab es eine Bewegung, die sie jedoch nicht erkennen konnte. Drom hob mit zuckenden Nüstern den Kopf. Er blinzelte die schlafenden Leiber an, die ihn umgaben. Er hatte Wache.
Leise, um seine neugewonnenen Freunde nicht zu stören, trabte er zu einem Fensterschlitz und spähte hinaus. Im Licht des Mondes stand eine kleine, schlanke Gestalt. Eine menschliche Gestalt, jung und rein. Uralte Gefühle begannen an ihm zu zerren.
Er begann lautlos damit, gegen den Felsbrocken zu drücken, der den Eingang versperrte. Er arbeitete mit großer Sorgfalt, denn er war erpicht darauf, die lockende Gestalt draußen genauestens auszumachen, ohne seine Gefährten zu wecken.
Nachdem er den Stein beiseite geschafft hatte, schritt er durch die Öffnung ins Gras hinaus und prüfte witternd die Luft, die von dem sauberen, lieblichen Duft des Mädchens geschwängert war. Sie war allein. Die Nacht war still, und es wehte kein Lüftchen, das irgendwelche verborgenen Düfte hätte vertreiben können.
Drom schritt zu dem Mädchen hinüber, das ihn nervös musterte und ein Stück zurückwich.
»Hallo! Du bist... aber schön!« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, warf einen kurzen Blick über die Schulter und sagte schließlich mit sicherer Stimme: »Willst du nicht mitkommen und mich ein Stück begleiten? Die Nacht im Wald ist sehr schön.«
»Gleich, Kleines, gleich. Erst muß ich noch etwas erledigen.« Er wandte sich um, kehrte zur Ruine zurück und steckte den Kopf in die Öffnung, um ein leises Wiehern auszustoßen.
»Wacht auf!«
Auf dem Boden regten sich die Gestalten, Roseroar, die stets nur einen ganz leichten Schlaf hatte, fuhr als erstes in die Höhe, als sie sah, daß der schützende Fels beiseite gerückt worden war.
»Was'n das?« Sie starrte das Einhorn an. »Ich darf doch wohl um 'ne Erklärung bitten!« Sie stand bereits aufrecht und schritt auf den Stein zu, doch Drom hielt sie auf. »Wenn die jetzt kommen sollten...« warnte sie.
»Immer mit der Ruhe, Bergkatze. Sie kommen nicht. Sie beobachten uns nicht einmal.« Hinter Roseroar wachten nun auch Jon-Tom und Mudge auf.
»Woher willst'n das wissen?« Roseroar spähte vorsichtig hinaus. Das Mädchen sah und witterte sie sofort, doch sonst niemanden.
»Weil sie es mit etwas anderem versucht haben.« Er stieß ein leises, wieherndes Lachen aus. »Bis sie merken, daß ihr neuester Plan gescheitert ist, wird es schon zu spät sein. Dann sind wir schon weit fort, außerhalb ihrer Reichweite. Wer von euch ist am schnellsten zu
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