Der Tag der Dissonanz
eure Vorstellung, daß es nichts gibt, was irgendwie wirklich von Wert wäre. Das hat uns zugesetzt.«
»Schau dich doch mal um, Mann! Was siehst du da?«
Jon-Tom drehte sich langsam im Kreis. Anstelle der halberhofften Offenbarung glitt sein Blick nur über eine ähnliche Szenerie, wie sie sie schon seit zahlreichen tristen Tagen wahrgenommen hatten - Steine, Pilze, Flechten und Moose, Nebel und Wolkendecke.
»Und jetzt frage ich dich«, seufzte der erste Pilz, »ist das etwa nicht deprimierend, eh? Ich meine, das ist doch einfach deprimierend!«
Jon-Tom spürte, wie seine Entschlossenheit ihm zu entgleiten drohte. Mudge und Roseroar waren schon beinahe eingeschlafen. Er hatte das deutliche Gefühl, daß keiner von ihnen jemals wieder aufwachen würde, wenn er sich ihnen jetzt anschließen sollte. Der Anblick des bleichen Gebeins in der Nähe erweckte ihn zu neuem Leben. Wie lange hatte es gedauert, bis der Besitzer dieses Skeletts auf Dauer in eine Depression gefallen war?
»Ich schätze, man könnte eure Existenz hier wohl tatsächlich als deprimierend betrachten.«
»Könnte betrachten?« wiederholte der große Giftpilz müde.
»Sie i s t einfach deprimierend. Ohne jedes Vielleicht. Ich meine, ich bin ein Pilzgewächs, Mann. Das ist an sich schon deprimierend genug.«
»Ich habe schon Pilze gegessen, die absolut aufregend waren«, konterte Jon-Tom.
»Auch noch ein Kannibale!« sagte der große Giftpilz matt.
»Wie deprimierend.« Er ließ einen gewaltigen telepathischen Seufzer los, eine Woge der Furcht und der Trauer, die über Jon- Tom zusammenschlug.
Er taumelte und schüttelte die Spinnweben ab, die seinen Geist zu fesseln drohten. »Hört auf damit!«
»Womit? Warum das Mühen? Entspann dich einfach, Mann! Du bist voll von Eile und Begierde und allem möglichen geistigen Ballast. Wozu dich damit erschöpfen, indem du dich um Dinge sorgst, die unwichtig sind? Nichts ist wichtig. Leg dich hier hin, entspann dich, nimm's leicht! Mach dich offen für die wahre Freundlichkeit der Wirklichkeit und stell selbst fest, um wieviel besser du dich dann fühlst.«
Jon-Tom wollte schon Platz nehmen, doch dann riß er sich wieder in die Aufrechte. Er zeigte auf das Skelett. »So wie das da?«
»Der hat nur vernünftig reagiert«, meinte der Giftpilz. »Er ist tot.« Jon-Toms Stimme bekam einen anklagenden Tonfall. »Ihr habt ihn umgebracht. Jedenfalls hat dieser Ort ihn umgebracht.«
»Den hat das Leben umgebracht. Gemetzelt vom Stumpfsinn. Von Monotonie ermordet. Er hat getan, was dem ganzen Leben von Natur aus widerfährt: Er ist zerfallen.«
»Zerfallen? Und ihr sprießt um die Wette inmitten des Zerfalls. Ihr lebt davon.«
»Das nennt der Leben«, murmelte ein weiterer Giftpilz. »Er ist den Weg allen Fleisches gegangen, das ist alles. Klar haben wir seine organischen Bestandteile auseinander genommen und abgebaut. Manchmal frage ich mich ernsthaft, wozu wir uns überhaupt die Mühe machen. Ist doch alles Verschwendung. Wir leben für den Tod. Erzähl mir nichts von Langeweile, Mann! Das hier ist doch die Öde selbst.«
Jon-Tom wandte sich um und ging zu Roseroar hinüber, um hart an der gewaltigen Schulter zu rütteln. »Wach auf, Roseroar! Komm schon, wach auf, verdammt!«
»Wozu die Mühe?« murmelte sie schläfrig und blickte ihn mit halb geschlossenen Augen an. »Laß mich schlaf'n. Nein, laß mich nich schlaf'n.« Das matte Flehen traf ihn wie ein Hilfeschrei.
»Keine Bange, das tue ich nicht. Wach auf!« Er schüttelte sie so lange, bis sie sich aufsetzte und die Augen rieb.
Dann schritt er zu Mudge hinüber, der wie hingegossen auf der Seite lag, und verpaßte dem Otter einen unsanften Tritt.
»Beweg dich, Wasserratte! Das sieht dir gar nicht ähnlich. Denk dran, wo wir hin wollen! Denk an das Meer, an die klare Salzluft!«
»Lieber nich, Kumpel«, erwiderte der Otter müde. »Hat doch eigentlich keinen Sinn.«
»Stimmt, stimmt, stimmt«, pflichtete der trübselige Pilzchor ihm zu.
»Steh ja gleich auf, Chef, nur 'ne Minute, 'at doch keine Eile, 'aben doch Zeit. Laß mich!«
»Den Teufel werde ich tun. Denk an das Essen, was wir schon genossen haben. Denk an die tollen Zeiten, die noch vor uns liegen, an das Geld, was wir noch machen können. Denk«, sagte er mit plötzlicher Munterkeit, »an die drei Tage, die du in der Eleganten H ündin verbracht hast!«
Der Otter sperrte die Augen weit auf und lächelte matt. »Ja, das is nun wirklich 'ne Erinnerung, an der man sich fest'alten
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