Der Tag der Dissonanz
uns auch ein verdammtes Schiff herbeizaubern, ja, das kann ich unternehmen!«
»Oh... äh.« Mudge wich zu den Bäumen zurück und suchte nach einem hinreichend großen Felsen, hinter dem er sich verstecken konnte. »Seine Erlaucht 'at die Schnauze voll und will's wieder mal mit Singen versuchen.«
Roseroar musterte den Otter neugierig. »Is das nicht seine Sache, Fusselball?«
»Kann sein, daß manche Leute es so nennen, aber ich putz lieber 'nem Krokodil die Zähne, als daß ich ihm bei seiner Arbeit 'elfe.«
»Das versteh ich nicht. Ist er nun 'n Bannsänger oda nicht?«
»Das is er«, gab Mudge zu. »Daran beste'en keine Zweifel mehr. Es is nur, daß er diese unglückselige Neigung 'at, von Zeit zu Zeit danebenzutreffen, und wenn das passiert, will ich nich gerade in seiner Schußlinie sein.«
»Geh schon, Roseroar!« bat Jon-Tom. »Geh dort hinten hin und versteck dich mit ihm hinter einem Felsen!« Er war wütend auf den Otter. War es nicht er, Jon-Tom, gewesen, der den großen Sieg am Jo Troom-Tor herbeigeführt hatte? Natürlich war das reiner Zufall gewesen, aber trotzdem...
»O nain!« erwiderte die Tigerin beleidigt. »Wennde nichts dageg'n hast, bleib ich genau hia steh'n.«
»Schön für dich.« Jon-Tom schnallte seine Duar los, wandte sich ab, um mit dem Gesicht zum offenen Meer zu stehen, wo er bald ein richtiges Schiff zu erblicken hoffte, das ohne Fracht vor Anker lag. Außerdem konnte Roseroar dann nicht sehen, wie nervös er war.
Einmal hatte er schon an einem fernen Fluß versucht, ein Transportmittel für sich und seine Gefährten herbeizuzaubern. Statt dessen hatte er Falameezar heraufbeschworen, den marxistischen Drachen. Diese unpassende Beschwörung hatte zwar im Endeffekt unerwartet gute Ergebnisse gezeitigt, doch gab es keine Garantie dafür, daß er noch einmal so viel Glück haben würde, wenn er die Beschwörung ein zweites Mal versiebte.
Doch nun war es zu spät für einen Rückzieher. Er hatte bereits damit geprahlt, und er spürte, wie sich Roseroars Blick in seinen Nacken bohrte. Wenn er es jetzt aufgab, bewies er sich Mudge gegenüber als Versager und der Tigerin gegenüber als Feigling.
Er mußte es versuchen.
Er überlegte sich mehrere Songs und tat sie alle als ungeeignet ab. Schon drohte er in Panik zu geraten, als sich ihm ein Song anbot, der so klar, so schlicht war, daß er ihm als völlig offensichtlicher Ausweg erschien.
Mit den Fingern prüfte er die Saiten der Duar und begann zu singen.
Sofort leuchteten um ihn herum Lichtflecken auf. Es war, als erwache der Sand unter seinen Füßen zum Leben. Die Lichter waren Gnietschies, jene winzigsten ultraschnellen Tupfen des Seins, die sich unwiderstehlich zu gerade ausgeübter Magie hingezogen fühlten. Sie verschmolzen zu einer hellen tanzenden Wolke, und wie üblich, wenn er den Versuch unternahm, sie genauer zu betrachten, verschwanden sie. Gnietschies waren jene Andeutungen von etwas, das man im Augenwinkel bemerkt, das aber nicht mehr da ist, wenn man sich danach umdreht.
Doch er spürte ihre Anwesenheit. Roseroar und die anderen fühlten sie ebenfalls. Es war ein gutes Zeichen, ein Hinweis darauf, daß das Bannsingen funktionierte. Der Song selbst schien harmlos genug zu sein, selbst für den vorsichtigen Mudge, dessen Meinung über Jon-Toms musikalischen Geschmack sich kaum von der des durchschnittlichen Vorsitzenden eines Elternbeirats unterschied.
Der Otter mußte zugestehen, daß das anderweltliche Liedchen, das Jon-Tom gerade rezitierte, leichte Kost für die Ohren bot, auch wenn die meisten Worte des Texts, wie bei allen Songs, die Jon-Tom sang, völlig unverständlich waren.
Jon-Tom hatte den Song ebensosehr aus Verzweiflung wie aus Not gewählt. Es war ›Sloop John B.*‹ von den Beach Boys.
[* Ein Lied über ein Segelboot, die Schaluppe (= sloop) ›John B.‹ -Anm. d. Übers.] Wenn man ihre gegenwärtige Lage und ihre Bedürfnisse bedachte, war diese Wahl durchaus logisch.
Zuerst passierte gar nichts. Doch schon nach kurzem schlug Jalwar schützende Zeichen vor Gesicht und Brust, während der Otter nervös darauf wartete, daß sich das Unerwartete manifestierte. Trotz ihres ehrfürchtigen Staunens über das, was da am Strand geschah, hielt Roseroar die Stellung.
Mudges Sorgen waren unbegründet. Endlich, zum allerersten Mal, sah es so aus, als würden Jon-Toms Bemühungen ohne Einschränkung von Erfolg gekrönt. Endlich hatte es den Anschein, daß sein Zauberlied auch das hervorbrächte, was
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