Der Tag der Dissonanz
Luchses. Der Aufseher stürzte wie von einer Axt getroffen zu Boden.
Jon-Tom atmete erleichtert auf. »Klug von dir, Mudge. Wir können es nicht gebrauchen, unsere Flucht noch durch einen Mord zu verkomplizieren.«
Mudge nahm sein Schwert wieder auf. »Das stimmt wohl, Kumpel, aber das Lob muß ich abschlagen. Ich 'ab nämlich wirklich versucht, ihm den Kopf vom Rumpf zu trennen.«
»Schnell jetzt!« mahnte Jon-Tom die Kleinen, als er auf die Abstellkammer zulief. »Alles raus, bevor noch jemand hier auftaucht, um nach euch zu sehen.« Er führte sie durch den Raum. »Nicht drängeln, es kommt schon jeder raus... nicht drängeln, da hinten...«
Roseroar strengte sich an, um die Schatten genauer auszumachen, die am geöffneten Fenster zu erkennen waren. Bisher hatte anscheinend niemand das herabbaumelnde Seil aus rosa Bettüchern bemerkt, doch brauchte nur ein Spaziergänger hier vorbeikommen, und schon würde Alarm geschlagen werden.
Sie erwartete Jon-Tom oder Mudge oder sogar das Mädchen zu sehen. Was sie jedoch nicht erwartete, das war die schweigende Säule der Kinder, die nun die Tücher hinab in die Tiefe kletterten. Manche der Arten waren für das Klettern geschaffen und gelangten mit schnellen, anmutigen Bewegungen hinunter, andere wiederum hatten es schwerer, doch alle kamen sie heil unten an. Roseroar sprang vom Baum und lief auf das Gebäude zu. Die Kinder ignorierten sie zum größten Teil, als sie in alle möglichen Richtungen davonstoben, kleine dunkle Gestalten, die von den Schatten verschlungen wurden.
Der Exodus der Jugend hielt eine Weile an. Schließlich erschienen Jon-Tom, Mudge und Wahnwitz in der Öffnung des oberen Fensters.
Im selben Augenblick gingen im gesamten Komplex des Waisenhauses die Lichter an.
XI
Der Verdacht des Otters war also gerechtfertigt gewesen, dachte Roseroar. Das war die einzige mögliche Erklärung für diese Massenflucht. Sie wartete besorgt, als Mudge das Seil hinunterglitt, dicht gefolgt von Wahnwitz.
Jon-Tom war gerade durch das Fenster gestiegen und kletterte soeben über das Eisengitter, als etwas an seinem Kopf vorbeisauste. Unten auf der Straße fiel es zu Boden. Roseroar hob es auf und stellte fest, daß es eine kleine Keule war. Das knotige Ende war mit Nägeln gespickt. Nicht die Art von Waffe, die man bei einem Schlafsaalaufseher oder einem Lehrer erwartet hätte.
Das letzte Kind war gerade in einer schmalen Seitengasse verschwunden. Im Waisenhaus schrillten die Glocken. Mudge kam unten an und sprang auf die Straße, Wahnwitz rutschte aus, stürzte die letzten eineinhalb Meter in die Tiefe und hätte sich beinahe einen Knöchel gebrochen. Die Ursache für ihren Sturz war deutlich zu erkennen: Ein Haufen aus rosa Tuch fiel spiralförmig auf sie hinab.
»Verdammter Mist!« Der Otter spähte nach oben und fluchte.
»Ich 'ab das obere Ende an 'nem Bettpfosten befestigt. Irgend jemand muß es abgeschnitten 'aben.« Er sah, wie Jon-Tom sich mit einer Hand an dem Metallrost festhielt, während er gleichzeitig versuchte, sich mit seinem Rammholzstab zu wehren. Aus dem Inneren des Abstellraums drangen deutlich zu vernehmende Schreie heraus. Der Rost ächzte bedenklich und begann, sich in seinen Scharnieren zu verbiegen.
»In einer Minute 'aben sie ihn«, murmelte der Otter hilflos.
»Wenn das blöde Gitter nicht schon vor'er nachgibt.«
Doch es geschah weder das eine noch das andere. Irgend jemand in dem Raum stach mit einem Speer nach außen. Jon- Tom beugte sich zurück, um der tödlichen Spitze auszuweichen, verlor den Halt und stürzte ab. Der Stab fiel ihm aus der Hand, als er sich im Fall überschlug und sein Echsenhautumhang sich um ihn verhedderte Wahnwitz stieß einen Schrei aus. Aus den Schatten ringsherum ertönten leise Jammerschreie, als die wenigen Kinder, die innegehalten hatten, um Luft zu schöpfen, mit ansahen, wie ihr Wohltäter in die Tiefe stürzte.
Doch es kam nicht zu dem grauenvollen Aufprall von Fleisch auf Stein. Roseroar grunzte leise. Es war ihr nur eine kaum merkliche Anstrengung, Jon-Tom mit beiden Armen aufzufangen. Er schob seinen Umhang beiseite, der sich um seinen Kopf gewickelt hatte, und starrte zu ihr hoch.
»Danke, Roseroar.« Sie grinste und setzte ihn sanft ab. Er ordnete seine Kleider und nahm seinen Stab wieder an sich. Die Duar, die er noch immer auf dem Rücken trug, hatte den Sturz unbeschadet überstanden.
»Mächtig gutes Fangmanöver!« Mudge verpaßte der Tigerin einen lobenden Klaps aufs Hinterteil und
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