Der Tag der Dissonanz
mit einem Ohr dem kindischen Dialog, und bemühte sich gleichzeitig, ihn nicht zu beachten. Idiotisch, diese Menschen! Sie achtete sorgfältig darauf, jede Seitenstraße, an der sie vorbeikamen, zu inspizieren. Denn sobald die Freunde der Straße so viele Flüchtlinge wie möglich eingefangen hatten, würden sie bestimmt die Polizei wegen des Einbruchs alarmieren.
Abgesehen von den Sorgen, die dieses neue Problem aufwarf, mußte sie auch noch die Albernheiten dieses heranwachsenden Menschenweibchens ertragen, das so schamlos mit Jon-Tom flirtete.
Na und? Sorgfältig analysierte sie ihr Unbehagen. Wieso, fragte sie sich, konnte ein solch harmloses Geplauder sie derart aufregen? Der Bannsänger mochte zwar bewundernswert sein, aber er gehörte nicht einmal zu einer verwandten Art. Es war doch wohl klar, daß jede Beziehung, die über gegenseitigen Respekt und eine starke Freundschaft hinausging, völlig außer Frage stand. Schon der bloße Gedanke daran war doch absurd! Der Mann war ein dürres, pelzloses Ding, nur halb so groß wie sie selbst. Es war völlig sinnlos, daß sie sich um seine persönlichen Angelegenheiten sorgte.
Sie versicherte sich, daß ihr Interesse nur natürlich sei. Jon- Tom war inzwischen zum Freund, zum Gefährten geworden. Es war genauso, wie er es dem Mädchen erklärt hatte: Es tat weh, mit ansehen zu müssen, wie jemand ausgenutzt wurde. Roseroar würde es nicht zulassen, daß diese raffinierte, hinterhältige Heranwachsende ihn ausnutzte. Und das würde Wahnwitz schon tun, sobald sie Gelegenheit dazu erhielt. Sie schüttelte den Kopf, als Jon-Tom sich von verführerischem Geplänkel beeindrucken ließ, erstaunt über die Naivität, die Menschen beim Werben zeigten. Sie hatte ihn für klüger gehalten.
Sie ignorierte es, so lange es ging, bis sie die verschleierten Andeutungen und die scheinbar naiven Fragen nicht mehr ertragen konnte.
»Ich glaub, wia können jetzt etwas das Tempo drosseln.«
Jon-Tom und Mudge stimmten ihr zu. So fielen sie alle in ein schnelles Gehen, und Roseroar hielt sich an das Mädchen.
»Und ich glaub, es war auch eine gute Idee, wenn wia alle für 'ne Weile den Mund halten würden, um nicht mehr Aufmerksamkeit zu erregen als nötig. Und ganz abgeseher davon, wenn ich mir dein Geschwätz noch länger anhöar muß, Mädchen, fang ich gleich an zu kotzen.«
Wahnwitz blickte die Tigerin an. »Hast du Probleme?«
»Eigentlich nicht, kleines Weibchen. Ist nur so, daß ich'n mächtigen Respekt vor der Sprache hab. Und wenn ich höan muß, wie sie derart blöde mißbraucht wird, schlägt mia das auf die Verdauung.«
Wahnwitz wandte sich Jon-Tom zu. Ihre blauen Augen und ihr blondes Haar blitzten im widergespiegelten Licht der Ladenfronten und Straßenlampen. Ihre vom Nieselregen nasse Haut glitzerte.
»Meinst du auch, daß ich blödes Zeug rede, Jon-Tom?«
»Vielleicht ein bißchen, ja.«
Sie reagierte mit einer vielgeübten und bis zur Perfektion vollendeten Schnute. Roseroar seufzte und wandte sich wieder ab. Sie fragte sich, warum sie sich diese Mühe machte. Der Bannsänger hatte sich als Mann von Intelligenz und Scharfsinn erwiesen. Es schmerzte sie mitanzusehen, wie er sich derart offenkundig manipulieren ließ. Sie erhöhte wieder ihr Tempo, um sich das nicht länger anhören zu müssen.
»Du magst mich nicht«, murmelte Wahnwitz Jon-Tom zu.
»Natürlich mag ich dich.«
»Ich hab's gewußt!« Sie drehte sich um und schlang ihm die Arme um den Hals, daß er ins Taumeln geriet. »Ich wußte doch, daß du mich magst!«
»Wahnwitz, bitte!« Jon-Tom mühte sich zögernd damit ab, sich aus ihrer Umarmung zu lösen. Roseroar hätte ihm freudig dabei geholfen, wenn gleich sie dabei dem Mädchen wahrscheinlich beide Arme gebrochen hätte. »Wahnwitz, ich habe bereits eine Frau.« Ihre Miene verdüsterte sich augenblicklich. Sie wandte sich von ihm ab und konzentrierte sich wieder auf die Straße vor ihnen.
»Das hast du mir nie erzählt.«
»Das war auch nie nötig. Sie heißt Talea. Sie lebt in der Nähe einer Stadt namens Lynchbany, ganz weit von hier, am anderen Ufer des Glittergeistmeeres.«
Otterohren waren sehr hellhörig, und Mudge gesellte sich wieder zu ihnen. »Natürlich ist sie nicht wirklich seine Frau«, sagte er im Plauderton, Jon-Toms Unbehagen gründlich genießend. »Sie sind nur befreundet, daß ist alles.«
Wahnwitz war hocherfreut über diese Enthüllung. »Ach so, ja das ist natürlich ganz in Ordnung.«
»Außerdem bist du für
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