Der Tag der Rache. Private Berlin
ihr bewusst, dass Erinnerungen alles waren, was ihr von Chris geblieben war. Und alles waren, was er je sein würde. Doch Niklas lebte. Niklas hatte eine Zukunft. Das musste sie ihm zu verstehen geben.
Mattie öffnete die Tür, als Tante Cäcilia aus der Küche kam. »W o ist er?«, fragte Mattie, ohne ihre Trauer verbergen zu können.
»E r ist gerade in sein Zimmer gegangen«, antwortete Tante Cäcilia, ihr Gesicht von Sorge verzerrt. »C hris?«
Mattie biss sich auf die Lippe und schüttelte den Kopf. »E r ist tot, Tante Cäcilia.«
Tante Cäcilia rannte auf sie zu. »N ein! Nein! Was ist passiert?«, rief sie.
Mattie standen die Tränen in den Augen, als sie Tante Cäcilia in die Arme fiel. »I ch erklär’s dir später, wenn ich es Niklas gesagt habe. Aber wie soll ich das tun, wenn ich es mir selbst nicht erklären kann?«
Ihre Tante umarmte sie so fest, dass die Dämme brachen und Mattie in ihren Armen schluchzte. »D as Leben kann manchmal so grausam sein, mein Kind«, sagte Tante Cäcilia und rieb ihr über den Rücken.
»W arum?«, weinte Mattie. »W arum?«
»D as kann ich nicht beantworten. Diese Frage stellst du am besten Gott.«
»M ami?«
Mattie hob den Kopf. Niklas beobachtete sie von seiner Zimmertür aus. Er trug bereits seinen Schlafanzug und sah so verängstigt aus, dass sie in ihrer Trauer beinahe zusammenbrach. Doch sie fing sich wieder, löste sich aus der Umarmung ihrer Tante und ging auf Niklas zu. »E s tut mir leid, Nicky.«
Niklas’ Kinn zitterte, und einen Augenblick lang befürchtete sie, er würde ihr die Schuld geben und fortlaufen. Doch in Tränen aufgelöst rannte er in ihre offenen Arme. »A ber ich dachte…«, schluchzte er. »I ch habe gebetet… Tante Cäcilia hat gesagt…«
Mattie hob ihn hoch und trug ihn zum Schaukelstuhl im Fernsehzimmer. »I ch weiß, ich weiß«, tröstete sie ihn. Er klammerte sich an sie. Sokrates kam und sprang auf Niklas’ Schoß. Mattie hielt sie beide fest, während sich ihre Tante weinend aufs Sofa setzte. Diese drei Wesen waren, wie Mattie klar wurde, die einzigen Anker in ihrem Leben.
38
Am nächsten Morgen, nach einer fast schlaflosen Nacht, widerstand Mattie dem Drang, früh zur Arbeit zu gehen. Sie wollte bei Niklas sein, bereitete ihm das Frühstück und brachte ihn zur Schule. Auf dem Weg dorthin blieb Niklas stehen und blickte zu ihr auf. »K ommst du auch zurecht, Mami?«, fragte er.
Sie hatte ihn gerade dasselbe fragen wollen. Sie umarmte ihn. »S olange ich dich habe, kleiner Mann, werde ich immer zurechtkommen.«
»I ch auch«, erwiderte Niklas.
Sie gab ihm einen Kuss. »J etzt geh, sonst kommst du noch zu spät. Tante Cäcilia holt dich nachher ab.«
»I ch finde den Weg doch auch schon alleine.«
»D as weiß ich, aber sie wird dich trotzdem abholen.«
Als er die Treppe hinaufgegangen und im Gebäude verschwunden war, klingelte ihr Telefon. Es war Katharina Doruk. »I ch warte im Tacheles auf dich.«
»I ch war gerade auf dem Weg ins Büro.«
»I ch habe herausgefunden, dass Rudi Krüger im Tacheles lebt und arbeitet. Vielleicht können wir uns dort nett mit ihm unterhalten. Ich hab mir sagen lassen, frühmorgens passt immer, wenn man es mit Künstlern und Anarchisten zu tun hat.«
Mattie hatte sich eigentlich um Chris’ Vergangenheit kümmern wollen, doch mit dem Sohn des Milliardärs zu sprechen war auch gut.
»W ann?«
»I ch werde in zwanzig Minuten dort sein.«
Mattie ging zur U-Bahn Rosenthaler Platz. Es war ein kühler, stürmischer Tag, dunkle, aufgeplusterte Wolken trieben über den Himmel. War das Leben nichts anderes als das? Eine vom Wind über den blauen Himmel getriebene Wolke?
Dieser Gedanke beschäftigte Mattie, bis sie den U-Bahnhof betrat und am Kiosk die Überschriften der Berliner Zeitung und der Berliner Morgenpost bemerkte. Sie schnappte sich beide, bezahlte und las in der U-Bahn Richtung Oranienburger Straße die Artikel über das Schlachthaus.
Beide Zeitungen berichteten von der Explosion, der Tatsache, dass am Tag zuvor Polizeifahrzeuge in der Gegend gesehen worden waren, und dem Gerücht, dass Hauptkommissar Hans Dietrich den Fall bearbeitete. Allerdings wurde, wenn auch spärlich, nur die BKA -Beamtin Rosi Baumgartner persönlich zitiert, die aber verschwieg, was die Polizei vor der Explosion im Schlachthaus getrieben hatte.
Der Artikel in der Morgenpost ging noch weiter: Die DDR -Regierung habe das Schlachthaus Ende der Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts als
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