Der Tag der Rache. Private Berlin
vorbeiführte, das zu ihrer Wohnung gehören musste. Ich hatte mich umgeblickt, niemanden hinterm Haus gesehen und spontan improvisiert.
Ich zog mir die Skimaske über den Kopf und begann hinaufzusteigen. Auf dem Absatz verharrte ich einen Moment, bevor ich zum Fenster hinüberglitt. Dort im Flur stand meine alte, liebe Freundin Ilona mit dem Rücken zu mir.
Ich konnte es nicht verhindern– meine Kehle gab diesen Knacklaut von sich wie immer, wenn ich mich freue. Sie muss ihn gehört haben, weil sie herumwirbelte, mich sah und losschrie.
Jetzt renne ich Richtung Schillerpark. Dort werfe ich den Anorak in den ersten Mülleimer und nehme mir vor, etwa eine halbe Stunde lang weiterzurennen, bevor ich zu meinem Mercedes zurückkehre.
Bleib ruhig, ermahne ich mich. Du weißt, wo sie wohnt. Und sie ist drogenabhängig. Freunde, wir wissen doch genau, wo sie morgen sein wird, hm?
87
Als die Schreie lauter wurden, pochte Mattie an die Tür von Ilona Freis Wohnung. »F rau Frei?«, rief sie. »I lona Frei?«
»D ie ist echt durchgeknallt«, sagte eine Frau. An der Tür zur Wohnung 25 stand eine angewidert dreinblickende alte Vietnamesin mit braunem Schal um den Kopf. »S ie andauernd schreien und rufen wegen Geister und so was. Durchgeknallt.«
Das Schreien in der Wohnung hatte sich zu einem hysterischen Schluchzen gewandelt.
»B leib zurück, Mattie«, wies Tom sie an.
Mattie trat zur Seite, während Tom seine Waffe zog und mit voller Wucht die Tür mit der Schulter aufstieß.
»N ein, nein«, schluchzte die Frau. »B itte, Falk! Bitte!«
Als Mattie den Namen Falk hörte, rannte sie an Tom vorbei in ein Schlafzimmer, das mit einer Matratze, ein paar Decken und einer nackten Glühbirne ausgestattet war. Die gleiche ungepflegte Frau– Ilona Frei–, die Chris auf dem Video in der Woche vor seinem Tod umarmt hatte, kauerte in der hintersten Ecke des Zimmers, ihre Hände fest um den Kopf gelegt, als wollte sie sich vor Schlägen schützen.
»N ein«, stöhnte sie. »N icht, Falk. Nein.«
»W ir wollen Ihnen nichts tun, Ilona«, sagte Mattie sanft, während sie auf sie zuging. »W ir wollen Ihnen helfen.«
Ilona Frei blinzelte und begann zu wimmern. »N ein, bitte. Ich möchte hierbleiben. Ich nehme die Medikamente. Ich versprech’s. Da war tatsächlich jemand am Flurfenster. Er trug eine Maske. Ich schwör’s. Nehmen Sie mich nicht wieder mit.«
»W ir bringen Sie nirgendwohin, wohin Sie nicht wollen«, beruhigte Mattie sie.
Ilona Frei keuchte und schwitzte, doch wenigstens nahm sie die Arme nach unten. Als sie Tom erblickte, geriet sie erneut in Panik.
Mattie erinnerte sich an Frau Ladwigs Worte, nach denen alle Kinder, die in der Nacht auf den 12. Februar 1980 ins Waisenhaus 44 gebracht worden waren, sich vor Männern gefürchtet hatten. Sie sah Tom an. »T ust du mir einen Gefallen? Schau mal nach dem Flurfenster und der Feuerleiter. Und dann warte draußen.«
Tom blinzelte, nickte aber schließlich.
Als er gegangen war, wandte sich Mattie wieder Ilona Frei zu. »W ir sind Freunde von Chris Schneider. Er war ein Kollege von uns bei Private Berlin.«
Irgendetwas löste sich in Ilona Frei bei diesen Worten, und sie sah Mattie an, als erblickte sie ein Licht irgendwo im Nebel. »C hristoph?«
Mattie setzte sich auf den Boden neben sie. »D er Mann, den Sie vor zwei Wochen bei Private Berlin besucht haben. Der Junge, mit dem Sie als Kind gemeinsam im Waisenhaus 44 waren.«
Die Frau wischte sich über ihr tränennasses Gesicht. »W o ist er?«, brachte sie heraus. »E r wollte sich mit mir treffen und mir sagen, ob er meine Schwester gefunden hat.«
Mattie seufzte. »C hris ist tot, Ilona«, sagte sie.
Bei diesen Worten begann Ilona Frei zu hyperventilieren und kratzte sich über die Handgelenke. »N ein. Nein. Bitte sagen Sie, dass das nicht wahr ist.«
»T ut mir leid, aber es ist wahr. Er starb letzte Woche.«
Ilona senkte weinend den Kopf. »W ie?«
»E r wurde umgebracht. In einem Schlachthaus in…«
»N ein!« Ilona keuchte, bevor sie zuerst erstarrte und dann am ganzen Körper zu zittern begann. »N icht dort!«, stammelte sie mit vor Schmerz verzerrtem Mund. »N icht im Schlachthaus. Oh, Gott, nicht dort.«
Sie versuchte aufzustehen, kippte aber nach vorne auf die Knie und übergab sich. Mattie war völlig überrascht über Ilona Freis Reaktion. Sie erhob sich und ging ins Badezimmer, wo sie ein zerschlissenes Handtuch unter den Wasserhahn hielt. Als sie wieder ins Schlafzimmer kam,
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