Der Tag der roten Nase
sein und war es auch noch nicht; ich sah auf meinem verstummten Handy nach, es ging erst auf fünf zu. Ich blickte zum Himmel: Schwarze Wolken schäumten über den Dächern auf. Die ersten Regentropfen schlugen eben schräg gegen das Fenster, als ich auf den gelben Knopf drückte, aufstand und zur Tür taumelte, was nicht leicht war, die Hämeentie ging zu Ende, die anschließende Kurve kam sozusagen mit der wohlbekannten Überraschung, man vergaß sie einfach immer wieder. Der Fahrer wollte es unbedingt bei dieser Grünphase noch über die Ampel schaffen und schaffte es auch, aber ich plumpste auf einen freien Sitz und sagte aus dem einen oder anderen Grund Entschuldigung zu ihm. Der rund Bebrillte auf dem Nachbarsitz zischelte seinen Schuhen etwas zu, blickte dann auf und sah aus wie ein spärlich behaartes Fragezeichen.
Ohne weiteres Torkeln gelangte ich aus dem Bus und auf die Straße. Alle wollten schnell den in immer kürzeren Intervallen herabfallenden großen, schweren, eisigen Regentropfen entkommen. Die Dämmerung verdickte sich zwischen den zerfaserten kleinen Linden auf dem Bürgersteig, es sah aus, als hätte die Erde den schlecht gelaunt wirkenden Wolkenteppich an sich gezogen. Ich machte mich auf den Weg nach Hause und dachte, ich gehe später einkaufen, plötzlich hatte ich es eilig, heimzukommen, weg von den Menschen, mit dieser Nase. Die Leute sprangen auf ihrer Flucht vor dem plötzlichen Regenguss in die Hauseingänge, mich störte es eigentlich nicht, das kalte Wasser, es tat den überhitzten Wangen sogar fast gut, auch wenn es wehtat, sobald es die Nasenspitze traf. Dann fing das Handy in der Tasche wieder an zu düdeln. Offenbar hielt mein Sohn Wort und rief noch einmal an.
Ich hatte es inzwischen bis an die Ecke gegenüber dem Runden Haus geschafft, welches auch schon zur Hälfte von der düsteren Zuckerwatte, die sich vom Himmel herabsenkte, eingehüllt war. Hinter der Ecke stellte ich mich unter, dort war eine Art Überdachung oder ein Säulengangersatz oder was auch immer, ich drückte mich an der Wand entlang neben die gelben Flügel, die einen Geldautomaten rechts und links abschirmten, und murmelte mein Hallo ins Telefon. Die Stimme meines Sohnes klang wieder weit weg und hallte, als würde er in einem Kanal stecken. »Ontscholdigung, mür ist wos onderes dozwüschen gekommen«, sagte er.
Ich sagte: »Alles klar«, und wusste nicht, ob mein Sohn nun wieder schwieg, weil er mit seinem eigenen Kram beschäftigt war oder weil ihn meine verknappte Formulierungverwirrte, jedenfalls war er verstummt, und zwar für eine lange Weile. »Hallo, hallo!«, rief ich. »Bist du noch da? Ja? Du wolltest doch was, oder? Vorhin, meine ich. Ich war arbeiten.«
Mein Sohn sagte, er sei da, wo immer das auch sein mochte, und ich stand noch immer neben dem Geldautomaten, vor dem sich inzwischen eine Schlange gebildet hatte, die Leute starrten mich an, von wegen was steht die so stocksteif da und faselt, das heißt sie starrten nicht direkt, das wusste ich, aber es fühlte sich trotzdem so an. Jedenfalls war da wieder mein Sohn am Telefon und darauf musste ich mich konzentrieren, er sagte: »Hör zu, Mama, ich muss mit dir reden, wirklich, jetzt lass uns mal reden.«
»Verflixt noch mal, dann rede endlich«, fuhr ich ihn an, das war seltsam, wo kam das jetzt her, dass ich meinen eigenen Sohn anfauchte. Dennoch stand ich hinter meinem Verflixt und wartete auf eine Reaktion, mir lagen ein bisschen die Nerven blank, weil er einfach nicht zur Sache kam, die Nase tat weh und ich hatte es eilig, nach Hause zu gelangen, aber irgendwie reichten meine Ressourcen gerade nicht aus, um gleichzeitig zu gehen und zu reden.
»Warum klingst du so böse?«, fragte mein Sohn.
Ich wollte ihn schon wieder anfahren, nach dem Motto, das hab ich doch gerade gesagt, aber dann begriff ich, dass ich bloß in Gedanken gebellt hatte, nicht in Form echter Kommunikation. »War ein langer Tag«, sagte ich.
Mein Sohn schwieg erneut mehrere Zeigerzuckungen lang. Ganz in der Nähe befand sich ein Parkplatz, und während ich darauf wartete, dass mein Sohn seine Sprechfähigkeit wiederfand, sah ich zu, wie ein Mädchen, das bestimmt gerade erst den Führerschein gemacht hatte, in einem großenManöver versuchte, ein für sie viel zu großes Auto einzuparken. Man konnte von der Ärmsten fast nur Augenbrauen, Stirn und Scheitel erkennen. Nachdem sie den silbernen Van endlich zwischen zwei andere Autos gezwängt hatte, wollte sie dem
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