Der Tag der roten Nase
plötzlich der Strom aus, als hätte er schlagartig gemerkt, dass er zu viel redete.
Trotzdem war er bereits auf dem Weg, seine Schritte knallten auf der Treppe, hallten nach und zerfielen, und ich hattees eilig, die Schuhe anzuziehen, die Jacke überzuwerfen und die Mütze aufzusetzen. Als ich mir den Schal um den Hals schlang, stieß ich mit dem Arm gegen die Nase, und mir entfuhr ein Aufschrei, der durch die offene Tür ins Treppenhaus schnellte und das Trampeln meines Sohnes zum Pausieren brachte. Kurz darauf hörte man von unten, von weit weg, etwas in der Art von: »Ist alles in Ordnung?« Es klang allerdings eher so, als würde er voller Panik in einem Abflussrohr rumoren.
»Mach keinen Aufstand da unten«, tadelte ich ihn so energisch, wie ich konnte, obwohl die Nase so höllisch wehtat, dass ich hätte schreien können wie am Spieß. »Ich komme ja schon.«
Und ich kam auch und war im Nu draußen vor dem Haus. Jetzt war die kalte Luft an der Reihe, mir eins auf die Nase zu geben, ich hielt es jedoch ohne großes Gejammer aus, es musste forsch und zielstrebig vorwärts gegangen werden, weil der Teufel von Hausmeister immer noch auf seinem Posten war, bereit, auch Unschuldigen das Blut auszusaugen. Kurz fragte ich mich, wieso diese Formulierung plötzlich rot in meinem Gehirn glühte, ich wusste es nicht, aber es hatte zur Folge, dass ich ihm, dem Hausmeister, entgegen aller Vernunft zurief, ich hätte es eilig, mein Sohn gehe fort, was wahrscheinlich am ehesten nach der stark verknappten Anamnese einer Krankheit im finalen Stadium klang, ungeachtet der Tatsache, dass mein Sohn eine Sekunde zuvor in Fleisch und Blut über den Hof gerannt war. Und dann röterte auch wieder das verfluchte Handy irgendwo tief in meiner Tasche, und aus reiner Gedankenlosigkeit nahm ich den Anruf auch noch entgegen.
Es war dieselbe Nummer wie am Morgen, jedenfalls waren mir die letzten drei Zahlen im Gedächtnis geblieben, sieben,sieben, sieben. Wieder rief ich mein Hallo ins Gerät – was für eine komische Angewohnheit war das eigentlich, dieses Hallogeschrei, früher war ich durchaus in der Lage gewesen, mich einfach mit meinem Namen zu melden.
»Hallo, ist da Irma?«, fragte eine Stimme. Ich erkannte sie sofort, auch wenn die Worte wieder seltsam klangen, als würde das Signal durch eine Tonne gejagt, bevor man es an mich weiterleitete. Und da ich keine Antwort herausbrachte, drang es erneut aus dem Hörer: »Hallo, hallo! Ist da Irma?«
»Ja«, krächzte ich schließlich. Meine Stimme troff tropfsteinhöhlenartig feucht und kalt von Telefon und Treppenhausgewölbe.
»Hier ist Irja, hallo«, kam es fidel aus dem Handy. »Irja Jokipaltio. Aus Kerava. Ich rufe doch nicht in einem ungünstigen Moment an?«
»Nein!«, schrie ich in den hallenden Tunnel und erschrak vor der aggressiven Akustik dermaßen, dass ich vor lauter Panik das uralte Eisentor zum Scheppern brachte, das aufzuhebeln auch dann schon jede Menge Arbeit machte, wenn man nicht gleichzeitig telefonierte. Jetzt hatte ich die Handtasche unterm Arm und das Handy am Ohr und dadurch an Händen nur ungefähr eine halbe zur Verfügung, weshalb es mit Sicherheit nach einem etwas ungünstigen Moment klang.
»Furchtbarer Lärm bei dir. Soll ich später noch mal anrufen, wenn es jetzt schwierig ist?«
»Nein!«, schrie ich ins Telefon, während ich mich durch den Torspalt ins Freie zwängte. Ich fürchtete, irgendwie ungehalten zu klingen. Mein Sohn stand auf der anderen Straßenseite zwischen den schräg geparkten Autos und drehte überrascht den Kopf. »Nein, nein«, fuhr ich an Irja gewandt fort,und zwar, als Gegengewicht zum Gebrüll von eben, so zirpend und zilpend und entspannt, wie es nur möglich war, wenn man »Nein, nein« rief. Ich schämte mich. Ich wäre an der geballten Fahrlässigkeit fast erstickt.
Irja schwieg eine Weile, dann fragte sie: »Was macht die Nase?«
Und obwohl ich mir gerade noch Sorgen über die Gemütsschwankungen meines Sohnes gemacht hatte, so brach ich nun in ein sicherlich irre klingendes Zwangslachen aus. Ich freute mich natürlich über Irjas vertraute Stimme und ihren unkomplizierten Wortgebrauch, aber gleichzeitig entsetzte mich auch etwas. Von der anderen Straßenseite aus sah mich mein Sohn verdattert an. Der Regen hatte abrupt aufgehört, der Wind war abgeflaut, die stille Bucht hinter meinem Sohn sah aus, als wäre sie auf der Stelle erstarrt, um auf das Eis zu warten. Die Bäume rings ums Stadttheater machten den
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