Der Tag der roten Nase
Sommer mal geschickt, keine Ahnung, warum, er war überhaupt nicht so der Postkartenverschicker. »Der Puuhamaa-Vergnügungspark macht Spaß« stand darauf, und als Illustration hatte man kreischende Kinder in verschiedenen Apparaturen und einen überdimensionalen Teddy gewählt. Ins Textfeld auf der Rückseite hatte mein Sohn Augen und einen breit grinsenden Mund gemalt; ich wiederum schrieb etwas hinein: »Alles Gute! Mit herzlichen Urlaubsgrüßen, Irma.«
Noch während ich die Karte durch den Briefschlitz steckte, schien mir das eine gute Idee zu sein, das mit dem Urlaub, ich dachte, das würde erklären, warum ich eine Zeitlang ferngeblieben war. Erst als ich mich draußen an den Baum lehnte, fiel mir die Beurlaubung des Familienoberhauptes ein.
Ich verbot mir, darüber nachzudenken, und fasste dann den Entschluss, ein paar weitere Kundenbesuche zu machen. Bei der ersten Adresse wollte ein krummer Omamensch die Umfragepapiere sehen, die ich mich aber nicht zu zeigen traute; von der zweiten Adresse blieb mir nur die mucksmäuschenstille Zweikindfamilie und das wütende rote Leuchten eines Radioweckers in Erinnerung, der aus irgendeinem Grund die einzige Lichtquelle der Dreizimmerwohnung an diesem grauen Nachmittag war; in der dritten Wohnung blieb es beieiner kurzen Unterhaltung mit einem Mann, der auf dem Wohnzimmerteppich mit wildem Blick seinen Fernseher auseinanderbaute, Mögen Sie Hühnerleber, Pfui Teufel, Ich finde sie gut und billig, Hat Sie jemand gefragt, Na ich muss dann mal weiter, auf Wiedersehen. Nach dem letzten Besuch kehrte ich zur Abwechslung mit dem Zug nach Hause zurück, ich dachte, zumindest davon könnten kleine Abdrücke im Gedächtnis bleiben, aber als ich zum Zug kam, war die Sonne bereits untergegangen und ich sah während der ganzen Fahrt praktisch nichts anderes als mein Spiegelbild im Fenster und den kolossal dicken Mann auf dem Sitz gegenüber, der ständig auf meine Nase schielte und sich auf abstoßende Weise die Lippen leckte, als würde er ein leckeres Erdbeersorbet aus mir herausragen sehen.
Und dann stand eines Tages mein Sohn ohne Vorwarnung vor der Tür. Beim ersten Klingeln fuhr ich automatisch auf, um zu öffnen, aber ich kam nicht weiter als zehn Zentimeter vom Stuhl hoch, weil ich mich plötzlich darin verlor, den schwabbeligen Sonnenfleck anzustarren, der auf der Zeitung vor mir aufgetaucht war, es sah aus, als wäre eine Pfütze gelbe Farbe aufs Papier geklatscht worden. Dann wurde irgendwo ein Fenster knirschend geschlossen, und das Lichtphänomen war ausgemerzt. Es klingelte erneut, aber ich blieb noch eine Weile müde sitzen und dachte, was, wenn vor der Tür so eine Fragerin wie ich steht. Als ich merkte, dass diese Vorstellung absolut nichts frohgemut Schelmisches an sich hatte, wie ich es mir gewünscht hätte, stand ich auf.
Da rief mein Sohn bereits vor der Wohnungstür: »Mach auf, Mama, ich bin’s, der hier schreit.« Energisch stieß ich die Tür auf und zog den Jungen herein und fauchte ihn an: »Wasschreist du so herum? Herrje, die Nachbarn glauben noch, hier finden zwielichtige Machenschaften statt.« Mein Sohn folgte mir mit angelegten Ohren, soweit das bei deren Ausmaßen möglich war, und stieß abgehackte Bitten um Entschuldigung aus. Innerhalb von zwei Sekunden war ich auf lauwarme Temperatur heruntergekühlt und irgendwie schlaff geworden.
Ich nahm sein rot glühendes, fleischiges Gesicht zwischen die Hände und rubbelte es. Ich wusste, dass er das hasste, und verzichtete deswegen darauf, ihn auch noch liebevoll »mein hässlicher Junge« zu nennen.
»Mama«, sagte er, wobei sein linker Augenwinkel zuckte. »Warum gehst du nicht ans Telefon? Ich hab mir Sorgen gemacht.«
»Willst du einen Kaffee?«
»Hast du gehört, Mama?«
»Ich habe gerade welchen getrunken«, sagte ich. »Aber ich koche frischen«, redete ich rührig weiter und war mit einem Satz an der Spüle, um den feuchten Kaffeesatz in den Mülleimer zu knatschen und Wasser in die Maschine laufen zu lassen. »Und was für ein Quatsch. Von wegen Sorgen gemacht.«
Mein Sohn sah sich mein Herumgefuhrwerke fast ängstlich an und drosch sich mit frustrierten Bewegungen das Kinn oder eher den autoreifenartigen Kehlsack, der unter seinem Kinn hing. Dann seufzte er. Ich bekam ein schlechtes Gewissen, was musste ich ihn auch ärgern, als dürfte er sich keine Sorgen machen, wenn die eigene Mutter auf einmal komisch wird, schwer zu erreichen ist und eine Nase spazieren trägt, die einem
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