Der Tag der roten Nase
Angst einjagen konnte. Per Knopfdruck brachte ich die Kaffeemaschine zum Tröpfeln und per Kopfnicken den Jungen an den Tisch.
Er ließ sich auf einen Stuhl fallen und ich setzte mich ihm gegenüber vor die Zeitung. Energisch raschelte ich mit den Seiten und knüllte dazu mein Gesicht zum Denkknäuel, als hätte ich in dem Blatt unvermutet eine besonders interessante Nachricht entdeckt. In möglichst sorglosem Ton fragte ich: »Worüber glaubst du dir denn Sorgen machen zu müssen, mein armer Junge?«
Er schaute aus dem Fenster und sah nun seinerseits so aus, als wäre er da draußen an allem Möglichen interessiert. Ich wusste aus Erfahrung, dass es dort nichts Aufregendes zu sehen gab, aber natürlich sollte er Gelegenheit zum Zeitgewinn haben, und darum gab ich ihm eine Frist und konzentrierte mich inzwischen auf das unfassbare Buchstaben-Bild-Gestrüpp der aufgeschlagenen Zeitung.
»Warum gehst du nicht ans Telefon?«, fragte er dann erneut, nachdem er die gegenüberliegende Mauer lange genug oberserviert hatte.
»Wenn ich Zeit habe, gehe ich auch ran«, sagte ich und blickte von der Zeitung auf. Mein Sohn zuckte zusammen, als hätte ich ihm mit meiner massiven Nase eins verpasst. »Du weißt doch, dass ich arbeite.«
»Vielleicht wäre es besser gewesen, daheim zu bleiben«, murmelte er ganz leise, es kam fast nur ein Zischeln durch die Zähne. Dann merkte er wohl, dass er einen Hauch zu weit gegangen war, aber anstatt um Entschuldigung zu bitten, vertiefte sich die Röte in seinem Gesicht nur noch. Als ich das Thema lediglich kommentierte, indem ich eine neue autistische Zeitungsseite aufschlug, redete er weiter: »Aber es geht noch immer um dasselbe Thema. Aber was heißt hier Thema, ich meine, mich.«
Dann sog er so viel Luft in die Lungen ein, dass die roten und schwarzen Karos sich auf seinem Hemd blähten wie Blasen auf glühender Lava, und er fuhr mich an: »Mama, ich muss jetzt echt das Auto irgendwo unterbringen.«
Sobald er seine Angelegenheit losgeworden war, erschlafften die aufgeblähten Stellen unter seinem Hemd. Draußen knallte jemand den Mülltonnendeckel mit grollender Wucht zu, ein paar erschrockene Tauben flatterten am Fenster vorbei. Ich sah meinen Sohn an. Er hatte die Augen eines Übeltäters, sie konnten mich nicht anschauen, der Blick schien sich um die blutunterlaufenen Augäpfel zu wickeln. Mit den Fingern wischte er die Schweißbläschen, die sich unter seiner Nase gebildet hatten, weg und trocknete sich anschließend die Hand an der Jeans. Erst jetzt bemerkte ich, dass ihm offenbar mitten beim Rasieren ein Gedanke abgelenkt haben musste: Im rechten Lichteinfall sah man auf der linken Gesichtsseite einen blonden, flaumigen und durch und durch einsamen Schnurrbart sprießen. Keine einzelnen Härchen, sondern einen veritablen halben Schnurrbart. Ich hätte ihn schon gern ein bisschen wegen seiner Nachlässigkeit gerüffelt, aber ich ließ ihn in Ruhe, weil er sowieso schon so gequält aussah.
Ich konnte es aber nicht ändern, seine Machenschaften waren mir nach wie vor suspekt. Und so feuerte mein Mund unvermittelt eine ganze Salve von Fragen ab, von der Sorte, die auch einen Unschuldigen dazu gebracht hätten, sich schuldig zu fühlen. Warum musste der Wagen ausgerechnet mir aufgedrängt werden? Konnte der nicht in Gottes Namen auf irgendeinem Parkplatz stehen? Und was spielte das überhaupt für eine Rolle, wo wollte er überhaupt hin, mein Sohn?
Mit einer Art hölzerner Genugtuung nahm ich zur Kenntnis,dass ich trotz allem, was in letzter Zeit passiert war, noch immer zu vollmütterlichem Einsatz fähig war.
Der Junge brauchte eine Weile, bis er sich gefasst hatte. »Mama«, sagte er dann. »Liebe, gute Mama, ich hab dir doch gesagt, ich muss eine Zeitlang weg, wie oft soll ich dir das noch erklären, es ist bloß was Berufliches, eine gute Gelegenheit, richtig gut.«
»Steckst du in irgendwelchen Schwierigkeiten?«, fragte ich, ohne mich um sein Aufschäumen zu scheren, das sicherlich noch länger angedauert hätte, wenn ihm nicht die Luft ausgegangen wäre. »Nein«, erwiderte er schnell und ein wenig stumpf, und dann setzten wir das Wortgestocher noch ein Weilchen fort: Was soll ich mit einem Auto, Du behältst es, Ach ja, Du behältst es und fährst, So so, Genau.
»Ich will ja nicht gemein sein«, sagte ich dann und fügte hinzu: »Aber jetzt muss ich doch mal fragen, ob man es ständig hätscheln muss oder ob es auch mal eine Zeitlang alleine auf der Straße stehen
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