Der Tag der roten Nase
Gelegenheit gab, mit dem Blick in den Ecken, auf der Arbeitsplatte, in den Regalen und auf der Fensterbank herumzustochern, weil ich vermutete, sie habe mich nicht kommen hören. Ich hätte sie gern gefragt, wie sie klarkommt, traute mich aber nicht. Dann sagte sie jedoch seltsam nachdenklich, jetzt setz dich endlich mal hin, und da setzte ich mich dann auch, eigentlich sogar schon bevor sie den Satz zu Ende gesprochen hatte. Ich glaubte, ein braves Mädchen sein und gehorchen zu müssen.
Kaum hatte ich mich einigermaßen auf dem Stuhl platziert, bemerkte ich ihn, den Zeitungsständer, so einen, der auf gräuliche Art metallisch schimmert, ein an die Wand schraubbares Modell neben dem Geschirrschrank. Er wurde fast vollständig von einer daran aufgehängten rot-weiß karierten Schürze verdeckt.
Ich saß am Tisch, im trompetend groben und geradezu respektlosen Herbstlicht, inmitten des tranigen Tickens der Wurzeluhren und Irjas gedämpften Küchenhantierens und stierte auf die Wand und auf die Schürze, hinter der der Zeitungshalter hing.
Irgendwie musste ich an ihn herankommen.
Schnell stand jedoch ein ganz neuer Anlass zur Schweißbildung in Aussicht, denn Irja fragte plötzlich merkwürdig langsam von ihrem Hantieren mit dem Gebäck aus: »Was hattet ihr denn zu tuscheln?«
Sie sagte es nicht in einem besonderen Tonfall, und das war ja gerade das Beängstigende: In ihrer Ausdrucksweise lag eine Farblosigkeit, die man sofort als filmreife Eisigkeit wahrnahm, und sie löste ein Gefühl aus, als wäre man schlagartig in einem erbitterten Dreiecksdrama, und zwar in der Rolle derÜbeltäterin. Eine Zeitlang konnte ich nichts tun, als hörbar zu schlucken, so als würden sich unter der Halshaut Steinbröckchen aneinander reiben, aber dann drehte sich Irja abrupt um und sah mir völlig ausdruckslos in die Augen, und auch wenn gleich darauf das vertraute, kaum wahrnehmbare Lächeln ihre Augenwinkel fältelte, so war es doch irritierend schwierig, an ihrem Gesicht abzulesen, ob sie nun die Zeitung gelesen hatte oder nicht. Da wagte ich es auch nicht mehr, schweigend das Urteil abzuwarten, sondern musste etwas sagen, die Wangen und den Mund mit Wörtern füllen und sie dann alle wurgelnd und prustend hinausbefördern, etwas sagen wie: »Also, ich versuch jetzt bloß so ein bisschen Smalltalk zu machen.« Ich dachte, ich sollte freundlich sein, endlich einmal, sie hatte die Beurlaubung am Hals und alles, darum wollte ich etwas Freundliches sagen, aber es blieb beim Anlauf. Eine Weile verging, bis ich verstand, dass es eigentlich die gleichen Worte waren, die sich Virtanen früher am Tag herausgewürgt hatte, bloß in etwas anderer Reihenfolge.
In einem naturkatastrophenartigen Schwall waren die Wörter herausgekommen. Eigentlich hätte ich am liebsten die Stirn auf den Tisch geschlagen und laut geheult, alles gestanden, die ganze Geschichte erzählt, gesagt, dass sie mir ganz plötzlich einfach wichtig geworden war, Irja, nicht die Geschichte, schon gar nicht die Zeitungsmeldung, die hätte ich am liebsten einfach vergessen und vieles andere ebenfalls. Dass ich mir einfach Sorgen machte. Und da war es auch schon, alles, die ganze Zeit lag es mir auf der Zunge, aber aussprechen konnte ich es nicht, ich konnte nur an einer glänzenden Kirsche auf der neuen Wachstuchtischdecke reiben und Ijra anschauen, oder genauer gesagt in ihre Richtung, an ihren Augenvorbei, in sie hineinzuschauen traute ich mich nicht, auf den tropfenförmigen Ohrring und das ausgeblichene Kopftuch mit dem Rosenmuster aber schon, und auf das riesige, hellblaue und zeltartige Putzhemd mit einem Mumin-Troll vorne drauf, dem Zeit und Waschmittel die halbe Schnute ausgelaugt hatten.
Und als ich dann endlich aus meinem Selbstmitleidsbad wieder auftauchte, weil Irja sich mir gegenüber an den Tisch setzte und sagte, das sei aber nett, wusste ich sofort, dass sie es nicht wusste. Sie hatte die Zeitung nicht gelesen. Und dann, mitten in der bereits etwas in Unterdruck geratenen Stille, schrillte die Türklingel.
Kaum hatte Irja ihr Bedauern gemurmelt und war in ihren Gesundheitssandalen zur Tür geschlappt, stürzte ich mich auf den Zeitungshalter und die davorhängende Schürze, als hinge in der Ecke ein luftiges, für häusliche Tätigkeiten gekleidetes Wesen, dem aus diesem oder jenem Grund der Garaus gemacht werden musste. In meiner Hektik versuchte ich zuerst die Zeitungen durch den Stoff hindurch zu betasten, riss dann aber die Schürze herunter und
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