Der Tag der Traeume
zunächst angenommen hatte, aber deswegen bildete er sich noch lange nicht ein, sie würde auch den nächsten Schritt wagen und endgültig sesshaft werden. Wenigstens war sie bereit, ihrer Schwester zuliebe Opfer zu bringen, weil sie wusste, wie sehr Hannah sie brauchte. Das rechnete Rick ihr hoch an.
Er musterte Hannah aus den Augenwinkeln heraus. »Deine Schwester kennt nur dieses unstete Leben. Dass sie dich bei sich behält, bedeutet für sie eine gewaltige Umstellung und beweist, wie viel ihr an dir liegt. Du musst ihr ein bisschen entgegenkommen. Zu ihr halten. Und versuchen, sie zu verstehen.«
Er holte tief Atem und fuhr fort, einem Teenager trostlose Zukunftsaussichten in möglichst lockenden Farben zu schildern. »Außerdem soll in Arizona immer herrliches Wetter sein, viel Sonne, kaum Regen, und du kannst Reiten lernen«, erklärte er, denn er vermutete, dass Kendall Richtung Westen weiterziehen wollte, wie sie es ursprünglich geplant hatte. Dann legte er eine Hand unter Hannahs Kinn. »Sieh mich an.«
Sie blickte auf, doch statt freudiger Erregung las er nur Verzweiflung in ihren Augen. »Du musst versuchen, sie von diesem Plan abzubringen«, bettelte sie.
Rick hatte Hannah mittlerweile so lieb gewonnen, als gehöre sie zur Familie. Er würde alles für dieses Mädchen tun. Alles, was in seiner Macht stand, fügte er in Gedanken hinzu. Leider schloss das genau das aus, was sie sich am sehnlichsten von ihm wünschte. »Das kann ich nicht.«
Sie blinzelte und wandte den Kopf ab, dann schob sie störrisch das Kinn vor. »Weil es dir egal ist, ob wir bleiben oder gehen.« Doch der Kummer in ihrer Stimme strafte diesen gespielten Trotz Lügen.
»Das stimmt nicht, und das weißt du genau.« Er hielt sie immer noch fest, obwohl sie sich loszumachen versuchte. Anscheinend wollte sie ihm die Schuld an der ganzen Misere in die Schuhe schieben, um einen Prellbock für ihre aufgestaute Wut zu haben.
»Warum willst du mir dann nicht helfen, Kendall zum Bleiben zu überreden?«
Weil er sich weigerte, die Verantwortung für Kendalls überstürzte Handlungen auf sich zu nehmen. Sie verschloss bewusst die Augen vor manchen Tatsachen, und Rick beabsichtigte nicht, ihr das Leben leichter als unbedingt nötig zu machen. Wenn ihre enttäuschte, frustrierte kleine Schwester ihr hart genug zusetzte, überdachte sie ihre Entscheidungen und die daraus resultierenden Konsequenzen vielleicht noch ein Mal.
»Weil Kendall eine erwachsene Frau ist«, erklärte er sanft, aber bestimmt. »Sie muss tun, was sie für richtig hält. Ich kann deine Schwester nicht dazu bringen, etwas zu tun, was sie nicht will, Hannah.«
»Schon klar. Vielen Dank für deine Hilfe.« Sie riss sich von ihm los und sprang auf.
Rick erhob sich ebenfalls. »Versprichst du mir etwas?«
»Vielleicht.«
Rick unterdrückte ein Lächeln und schüttelte den Kopf. »Denk über das nach, was ich dir eben gesagt habe. Gib deiner Schwester eine Chance. Sie liebt dich.«
»Behauptest du.« Hannah wandte sich ab und stieg die Stufen hinunter.
»Hannah, warte.«
Das Mädchen blieb stehen und drehte sich zu ihm um. »Was denn noch?«
»Ich möchte nur wissen, wo du hin willst.« Er fühlte sich immer noch für sie verantwortlich.
»Zu Norman’s, was trinken. Jeannie wartet da auf mich, und da ich nicht weiß, wann Kendall hier ihre Zelte abbricht, möchte ich noch so viel Zeit wie möglich mit ihr verbringen.«
Rick nickte. Ihm ging es in Bezug auf Kendall genauso. »Brauchst du Geld?«
Hannah winkte ab. »Nein, ich hab mir gestern ein bisschen was verdient. Trotzdem danke.«
Das Klingeln von Ricks Handy unterbrach ihr Gespräch. »Einen Moment, ja?« Er löste das Handy von seinem Gürtel und meldete sich. »Chandler.«
»Hi, Rick.« Er wusste sofort, zu wem die weiche Stimme am anderen Ende gehörte.
»Kendall.« Sein Herz begann schneller zu schlagen, und in seinem Kopf überschlugen sich die Fragen. Hatte sie ihre Meinung geändert? Wollte sie nun doch bleiben? Musste sie mit jemandem reden?
Brauchte sie ihn?
Hoffentlich lautete die Antwort auf jede Frage ja. »Was ist denn los?«
»Hast du Hannah gesehen?«
All seine Hoffnungen zerplatzten wie eine Seifenblase, und sein gesunder Menschenverstand übernahm wieder die Regie. Kendall wollte weder in der Stadt noch bei ihm bleiben und hatte dies auch nie vorgehabt. Jedoch musste er ihr zugute halten, das sie ihn über ihre Absichten von Anfang an nicht im Unklaren gelassen hatte. Seine Schuld,
Weitere Kostenlose Bücher