Der Tag der Traeume
heruntergeklappten Toilettensitz zurücksank und den Kopf auf die Knie legte. »Mir ist ja sooo schwindelig.«
Er musterte sie besorgt. »Kein Wunder, das verdammte Kleid schnürt dir ja die Luft ab. Ich dachte, du wolltest es ausziehen.«
»Hab ich ja versucht, aber es ist so heiß hier drin, und ich bekam die Knöpfe nicht allein auf, also hab ich mich erstmal einen Moment hingesetzt. Dann musste ich an meine Tante denken und an all die Jahre, die sie hier verbracht hat, und als ich aufstand, fing sich alles um mich herum an zu drehen, und …« Sie brach ab und zuckte hilflos die Achseln.
Sie neigte zu Gedankensprüngen, das hatte er im Verlauf ihres Gesprächs am Straßenrand schon festgestellt; hüpfte von einem Thema zum nächsten, nur eines schimmerte immer durch. Ihr tiefer, aufrichtiger Kummer. Rick hatte schon mit fünfzehn Jahren seinen Vater verloren, konnte sich aber noch genau an ihn erinnern. Sein Vater war ein Kumpeltyp gewesen, der kein Baseballspiel und keine Schulfeier seiner Söhne versäumt hatte.
»Mein Vater ist zwar schon lange tot, aber ich kann gut nachempfinden, was du jetzt durchmachst«, sagte er leise. Irgendetwas trieb ihn dazu, sich dieser Frau vorbehaltlos zu öffnen; Gründe, die all seine Alarmglocken schrillen ließen. Dennoch sprach er weiter. »Er starb vor zwanzig Jahren. Ich war damals fünfzehn.« Erinnerungen stiegen in ihm auf. »Aber manchmal ist der Schmerz noch so frisch, als wäre es erst gestern gewesen.«
Als er Kendalls tränenverschleiertem Blick begegnete, zog sich sein Herz vor Mitgefühl zusammen. Er hatte nicht erwartet, mit ihr in irgendeinem Punkt übereinzustimmen, schon gar nicht auf der emotionalen Ebene, die er normalerweise erfolgreich verdrängte. Daher überraschte es ihn um so mehr, dass er diese ihm eigentlich fremde Frau so gut verstehen konnte. »Das mit deiner Tante tut mir Leid«, murmelte er. Er hätte ihr schon früher sein Beileid aussprechen sollen, aber jetzt meinte er es wirklich ernst.
»Danke.« Ihre Stimme klang heiser. »Mir das mit deinem Dad auch.«
Rick nickte. Sie und Crystal hatten sich scheinbar sehr nahe gestanden. Enge Familienbande waren also noch etwas, was sie beide gemein hatten. Die Chandlers standen sich näher als die meisten anderen Familien; wurden durch gute und böse Erinnerungen aneinander geschweißt. Angesichts von Kendalls Schmerz empfand er plötzlich das Bedürfnis, sie zu trösten – und das beileibe nicht nur, weil es zu seinem Job gehörte, andere Menschen zu schützen und ihnen Trost zu spenden.
Rick unterdrückte ein leises Stöhnen. Diesen Weg war er schon einmal gegangen, und wo hatte er ihn hingeführt? »Ist dir nie der Gedanke gekommen, mich zu Hilfe zu rufen, als dir schwindelig wurde?«, lenkte er das Gespräch wieder auf das eigentliche Problem zurück.
Kendall legte den Kopf schief. »Die einfachste Lösung ist doch immer die beste. Wieso hab ich nicht gleich daran gedacht?«
Er kicherte. »Weil du zu benommen warst, um dich an meinen Namen erinnern zu können.«
»So was in der Art. Kannst du mir bitte helfen?«
Sie richtete die weit aufgerissenen Augen beschwörend auf ihn; eine Bitte, der er nicht widerstehen konnte. »Wo soll ich anfangen?«
»Mit den Knöpfen am Rücken.« Sie beugte sich vor, sodass ein paar rosarote Strähnen das blütenweiße Oberteil ihres Kleides streiften. Er durfte nicht vergessen, sie nach dem Grund für diese ungewöhnliche Haarfarbe zu fragen, wenn es ihr wieder besser ging. Obwohl das eigentlich überflüssig war, sie gefiel ihm so, wie sie war. Und er hatte immer angenommen, er würde Blondinen bevorzugen – allerdings musste er zugeben, dass er nicht die leiseste Ahnung hatte, welche Farbe sich nun tatsächlich unter der pinkfarbenen Tönung verbarg.
Als er die Hand nach dem ersten Perlmuttknöpfchen ausstreckte, wurde er sich plötzlich der Intimität dieser Situation bewusst. Er stand in einem engen Badezimmer und knöpfte einer Braut ihr Hochzeitskleid auf. Bei seiner Hochzeit mit Jillian hatte er Uniform und sie ein Umstandskleid getragen. Doch inzwischen war er über Jillian hinweg; hatte den Schmerz, den sie ihm zugefügt hatte, überwunden, und daher stiegen jetzt auch keine quälenden Erinnerungen in ihm auf. Soweit Rick wusste, lebte Jillian nun mit ihrem Mann und ihren drei Kindern glücklich und zufrieden in Kalifornien. Aus, vorbei, vergessen, dachte er. Außer Spesen in Form einer bitteren Erfahrung nichts gewesen.
Gerade deswegen
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