Der Tag der Traeume
nach einer Falle. »Wo ist denn Erics Familie?«, fragte er, weil er allmählich daran zweifelte, dass überhaupt jemand hier war.
»Sie sitzen dort drüben an dem runden Tisch.« Raina deutete über die Schulter zu einer größeren Gruppe von Leuten. »Aber ich dachte, du solltest wissen, dass Kendall gerade im hinteren Saal …«
Rick stöhnte. Seine Mutter hatte seine Befürchtung soeben bestätigt. Sie hatte ihn absichtlich hierher gelockt. Oh, sie hatte ihn sicher mit Erics Familie bekannt machen wollen, aber der Gedanke war ihr vermutlich erst gekommen, als sie Kendall hier entdeckt hatte. Er legte seiner Mutter eine Hand auf die Schulter. Es hatte keinen Sinn mehr. Er weigerte sich, Kendall noch weiter entgegenzukommen. Jetzt wollte er nur noch sein Leben weiterleben.
Er drückte Rainas Arm leicht, um sicherzugehen, dass sie ihm auch zuhörte. »Wohin Kendall geht und was sie tut, ist allein ihre Sache. Es ist alles geklärt. Sie verlässt die Stadt, und sie will bis dahin in Ruhe gelassen werden. Belassen wir es einfach dabei.«
Raina runzelte die Stirn. »Na schön, du musst es ja wissen. Wenn du tatenlos zusehen willst, wie die Auseinandersetzung zwischen ihr und Lisa zu einem handgreiflichen Streit ausartet, bitte.« Mit diesen Worten wandte sie sich ab und ging zu Erics Familie zurück.
Rick ärgerte sich über sich selbst. Würde er denn ewig auf die Tricks seiner Mutter hereinfallen? Sie hatte ihm einen unwiderstehlichen Köder hingeworfen, und sie wusste es. Aber sie hatte Recht. Wenn Kendall wirklich mit Lisa aneinander geriet, sollte jemand ein Auge auf die beiden haben, um im Notfall eingreifen zu können. Und dazu war er wohl am besten geeignet.
Als er in den hinteren Teil des Restaurants ging, drang Kendalls Stimme klar und deutlich zu ihm herüber. »Wenn Sie mir noch ein einziges Mal Ärger machen, werde ich gegen Sie vorgehen.«
»Ach ja? Und wie?«, fragte Lisa betont gelangweilt.
»Indem ich Sie als Erstes bei der Polizei anzeige. Erst mal wegen Belästigung. Mehr dürfte auch gar nicht nötig sein. Yorkshire Falls ist eine kleine Stadt, und die Leute hier vergessen nicht so schnell.«
Rick wollte nicht riskieren, entdeckt zu werden, indem er um die Ecke spähte, so gerne er jetzt auch Kendalls Gesicht gesehen hätte. Die Drohung in ihrer Stimme war unüberhörbar. Doch Lisa stieß nur einen langen, gereizten Seufzer aus.
»Ich lebe seit Jahren hier, habe einen einwandfreien Ruf, und außerdem können Sie mir gar nicht beweisen, dass ich irgendetwas getan habe«, erwiderte sie von oben herab.
»Sind Sie da so sicher? Zufällig habe ich nämlich eine Freundin, die im Postamt arbeitet.«
Ricks Augen wurden schmal.
»Wussten Sie eigentlich, dass Versandhäuser auf die Titelseiten der Kataloge, die sie verschicken, ein Schild mit Namen und Adresse des Kunden kleben? Und meine Freundin ist gern bereit, die Titelseite Ihrer nächsten Sendung von Risqué Business abzureißen und mir auszuhändigen. Womit glasklar bewiesen ist, dass Sie regelmäßig Kataloge von genau der Firma zugeschickt bekommen, für die ich damals als Model gearbeitet habe.« Deutliche Schadenfreude schwang in Kendalls Stimme mit. »Ich bin kein Anwalt, aber ich denke, das reicht für eine Anzeige allemal aus. Jeder in der Stadt weiß, dass Sie hinter Rick her sind, womit sich die Motivfrage erledigt hätte. Ich gebe Ihnen einen guten Rat, Lisa. Legen Sie sich nie wieder mit mir an.« Bei den letzten Worten sank ihre Stimme um eine Oktave.
Rick blieb vor lauter Überraschung fast der Mund offen stehen. Noch nie hatte er Kendall einen so bestimmten Ton anschlagen hören, noch nicht einmal ihrer Schwester gegenüber. Ein Anflug von Stolz wallte in ihm auf, verbunden mit der Erkenntnis, dass sich Kendall verändert hatte. Anscheinend hatte sie ein paar der Dämonen besiegt, die sie seit ihrer Kindheit peinigten, und war gestärkt aus dem Kampf hervorgegangen.
Er wünschte, neue Hoffnung aus diesem Gedanken schöpfen zu können, aber er wusste auch, wie stark der Wandertrieb in Kendall war. Selbst wenn sie jetzt Lisa wagte er nicht mehr zu glauben, dass sie vielleicht ihre Meinung änderte und hier blieb. Bei ihm.
Aber es freute ihn, dass sie, wenn sie die Stadt verließ, dies hoch erhobenen Hauptes tun würde. »So lobe ich mir mein Mädchen«, murmelte er und begriff im selben Moment, dass der letzte Teil dieser Bemerkung nicht zutraf und nie zutreffen würde.
»Rick wird Sie in der Minute vergessen haben, wo Sie
Weitere Kostenlose Bücher