Der Tag der Traeume
Hannah nach Hause holen. Nach Hause … als ob eine von ihnen ein Zuhause hätte. Kendall sah auf die Uhr. Schon acht. Sie rieb sich die Augen. »Gib mir durch, wo du genau bist, dann rufe ich an und besorge dir eine Fahrkarte. Hast du deinen Personalausweis dabei?« Sie bat Rick pantomimisch, ihr ein Stück Papier und einen Stift zu holen.
»Yeah.«
Rick reichte ihr das Gewünschte. Ihre Lippen formten ein stummes ›Danke‹. »Ich höre, Hannah«, sagte sie dann, kritzelte den Namen des Busbahnhofs von Vermont, die Vorwahl und die Telefonnummer auf den Zettel und seufzte leise. »Ich reserviere dir eine Fahrkarte und hole dich nachher in Harrington ab.«
»Von mir aus.«
Kendall meinte, aus dem prahlerischen Ton die Angst eines verschüchterten, allein auf sich gestellten Mädchens herauszuhören. Aber vielleicht wollte sie auch einfach nicht glauben, dass ihre Schwester wirklich so abgebrüht und gleichgültig war, wie sie sich gab. Schließlich hatte sie oft genug mit Hannah telefoniert, und sie hatte immer ganz normal geklungen. Aber wann hast du dir das letzte Mal die Zeit genommen, ihr wirklich zuzuhören?, fragte die leise, anklagende Stimme wieder. Da sie sich mit der Antwort und den daraus resultierenden Schuldgefühlen nicht auseinander setzen mochte, konzentrierte sich Kendall wieder auf die Gegenwart. »Pass auf dich auf, Hannah.«
»Ich geh nicht mehr zurück. Nie mehr.« Hannahs Stimme zitterte, und diesmal wusste Kendall, dass sie sich das nicht nur eingebildet hatte.
Sie räusperte sich, weil sich ein Kloß in ihrer Kehle bildete. »Darüber reden wir, wenn du hier bist, okay?«
»Versprich mir, dass du mich nicht zurückschickst.«
Sie würde sich irgendwie mit ihren Eltern in Verbindung setzen müssen, aber sie konnte ihre Schwester doch unmöglich an einer Schule lassen, wo sie so unglücklich war. »Versprochen.«
Am anderen Ende der Leitung ertönte ein langes, erleichtertes Seufzen.
»Ich rufe Mr. Vancouver an und sage ihm, dass du auf dem Weg zu mir bist. Ich möchte nicht, dass er die Polizei verständigt oder dich als vermisst meldet.«
»Glaub bloß nicht alles, was er sagt. Der Kugelkopf …«
»Mr. Vancouver«, vermutete Kendall.
Hannah schnaubte. »Er hat absolut keinen Sinn für Humor.«
»Hätte ich auch nicht, wenn du mich als Kugelkopf bezeichnen würdest«, erwiderte Kendall trocken. Sie war sich nicht sicher, ob sie von Hannahs letzten Schandtaten hören wollte.
»Hab ich nur ein Mal in seinem Beisein gemacht.«
Kendall schüttelte den Kopf. Sie ahnte, dass Einiges auf sie zukommen würde, wenn Hannah erst einmal da war. »Ich besorge jetzt deine Fahrkarte. Rühr dich nicht vom Telefon weg. Ich rufe gleich zurück und sage dir, was du tun musst.«
Die nächsten fünf Minuten verbrachte sie damit, alles Notwendige in die Wege zu leiten und den Schalterbeamten zu bitten, ein Auge auf Hannah zu haben, bis sie sicher im Bus saß, dann rief sie ihre Schwester zurück.
Endlich beendete sie das Telefonbuch und wandte sich an Rick. »Ihr Bus geht um viertel vor elf. Ich muss sie heute Nachmittag um fünf vor drei in Harrington abholen.«
»Was ist eigentlich passiert?« Rick entwand ihr das Handy und legte es auf den Nachttisch.
Kendall fuhr sich mit zitternden Händen durch das Haar, dann begann sie im Zimmer auf- und abzugehen. »Ich glaube es einfach nicht!«
»Setz dich erst mal.« Er klopfte auf die Matratze, auf der sie sich geliebt hatten und hinterher in seliger Erschöpfung eingeschlafen waren – während ihre Schwester vor Verzweiflung nicht ein noch aus gewusst hatte.
Und Kendall hatte von alldem keine Ahnung gehabt. Hatte das Unheil nicht kommen sehen. Sie schüttelte den Kopf, während sich ihre Gedanken überschlugen. »Hannah muss den Verstand verloren haben. Ich meine, wie konnte sie einfach so weglaufen? Wie konnte sie so dumm sein, ohne Geld und ohne zu wissen, wohin sie eigentlich will, zum Busbahnhof zu gehen? Wer tut denn so etwas Unbedachtes?«
Rick zuckte zusammen. »Du zum Beispiel.«
Kendall machte Anstalten, empört zu widersprechen, sah dann aber ein, dass er Recht hatte. »Okay, der Hang zu impulsiven Taten scheint also in der Familie zu liegen. Aber weißt du, was einer Vierzehnjährigen ohne Begleitung alles zustoßen kann?« Der Gedanke jagte ihr einen Schauer über den Rücken. »Hoffentlich passt der Schalterbeamte gut auf sie auf.«
Rick griff nach dem Zettel, auf dem sie sich Notizen gemacht hatte, dann nahm er das Telefon und
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