Der Tag der Traeume
auch drei. Ich hatte viele Onkel und Tanten, da kam jeder mal dran«, erwiderte sie betont munter.
Rick zog es vor, nicht zu fragen, warum sich niemand erboten hatte, dem Kind auf Dauer ein Heim zu bieten. Er wollte den Schlüssel zu ihrem Wesen finden, ohne ihr unnötig weh zu tun.
Kendall stieß einen langen Seufzer aus. »Ich fürchte, unser Familienmotto lautet: Hals dir keine unnötigen Probleme auf. Meine Mutter hat zwei Schwestern und einen Bruder, mein Vater einen Bruder. Alle taten notgedrungen ihre Pflicht, aber niemand wollte sich längere Zeit um ein kleines Kind kümmern.«
Es überraschte ihn, dass sie von sich aus den Punkt anschnitt, den er taktvoll umgangen hatte. Da er wusste, wie schwer es ihr fallen musste, ihm diese Dinge zu erzählen, schwieg er und ließ sie weitersprechen.
»Die einzige Ausnahme war Tante Crystal.« Bei der Erinnerung an ihre Lieblingstante leuchteten Kendalls Augen auf. »Die Zeit bei ihr war die schönste meines Lebens. Ich war damals erst zehn und kann mich nicht mehr an alles erinnern, nur an die Liebe, die sie mir gegeben hat. Und an ihre Plätzchen.« Sie lächelte, ihre Wangen färbten sich rosig. »Noch lange nachdem ich ausgezogen war, weil die Arthritis zuerst ihre Hände befallen hatte und sie kein Kind mehr versorgen konnte, schrieb sie mir jede Woche … das dachte ich zumindest. Später erfuhr ich, dass sie die Briefe einer Freundin diktiert hat.«
»Der springende Punkt ist, dass sie dich sehr lieb gehabt hat.«
Kendall nickte, dann schluckte sie hart. Eine einzelne Träne rann ihr über die Wange.
Rick hatte ihr keinen Kummer bereiten wollen, aber er hatte sein Ziel erreicht. Sie hatte sich ihm anvertraut. Mit dem Daumen wischte er ihr die Träne ab, dann verschloss er ihre Lippen mit einem Kuss, der in ihm augenblicklich den Wunsch erweckte, sie in Besitz zu nehmen. Aber vor allem wollte er ihr zeigen, wie viel sie ihm bedeutete. Sie sollte begreifen, dass sie für ihn nicht nur eine unter vielen war. Langsam, jede Sekunde auskostend, entkleidete er sie, dann streifte er rasch seine eigenen Sachen ab und griff in die Nachttischschublade.
»Wir kriegen die Schachtel schon noch leer.« Kendalls Stimme klang unüberhörbar zufrieden.
»Genau das ist ja der Sinn der Übung.«
Er hatte die Folie gerade aufgerissen, da nahm Kendall ihm das Kondom aus der Hand. »Das übernehme ich, wenn du gestattest.«
Während er wie gebannt zusah, streifte sie die dünne Gummihülle geschickt über sein erigiertes Glied, dann legte sie sich zurück und wartete darauf, dass er zu ihr kam. Das Wissen, dass sie ihn genauso begehrte wie er sie, steigerte sein Verlangen noch, er zog sie an sich, rollte sich über sie und drang mit einem harten Stoß in sie ein. Sie schlang die Beine um seine Hüften, hob sich ihm entgegen, nahm ihn tief in sich auf. Ihre Haut glänzte vor Schweiß, als sich ihre Körper im Einklang miteinander zu bewegen begannen, diesmal nicht rasch und heftig, sondern in dem langsamen, stetigen Rhythmus zweier Menschen, zwischen denen vollkommene Übereinstimmung herrscht.
Rick hatte gedacht, den Unterschied zwischen Sex und Liebe schon vor langer Zeit begriffen zu haben. Doch erst als er ein letztes Mal in sie hineinstieß und sie beide in einen Strudel der Leidenschaft riss, erkannte er das volle Ausmaß der Kluft, die zwischen diesen beiden Begriffen lag.
Einige Minuten später, nachdem er wieder zu Atem gekommen war und Kendall unter der Decke in den Armen hielt, überkam ihn ein nie gekannter tiefer innerer Frieden – zusammen mit dem vagen Gefühl einer ganz in der Nähe lauernden Bedrohung.
»Eigentlich wollte ich dich heute Nacht nach Strich und Faden verwöhnen«, flüsterte sie. Ihre Lider wurden bereits schwer.
Er lächelte leise. »Das hast du doch getan.«
»Freut mich.« Ihre schlaftrunkene Stimme rührte ihn.
Er hielt sie schweigend fest, bis ihre ruhigen, gleichmäßigen Atemzüge ihm verrieten, dass sie eingeschlafen war, dann schloss auch er die Augen. Nächte wie diese konnten, was ihn betraf, ruhig zur Gewohnheit werden, aber im Gegensatz zu seinem Kindheitstraum, zur Polizei zu gehen, würde sich der von einer Zukunft mit Kendall wohl kaum verwirklichen lassen.
Ein schrilles, durchdringendes Geräusch riss Kendall aus dem Schlaf. Sie versuchte, es zu ignorieren, aber da legte sich eine Hand auf ihren Arm, schüttelte sie unbarmherzig und zwang sie dazu, widerwillig die Augen aufzuschlagen.
»Kendall, wach auf! Das ist das
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