Der Tag der Traeume
wählte eine Nummer. »Hallo?«
»Was machst du denn …«
Er brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Hier spricht Officer Rick Chandler vom Yorkshire Falls Police Department. Yorkshire Falls, New York. Bei Ihnen befindet sich eine Minderjährige namens Hannah Sutton?« Er wartete die Antwort ab, dann nickte er Kendall zu. »Gut. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie dafür sorgen würden, dass sie in den richtigen Bus steigt und von niemandem belästigt wird, während sie wartet. Ich kann Ihnen die Nummer meiner Dienstmarke durchgeben, wenn Sie ….« Er schwieg einen Moment. »Nicht nötig? Danke für Ihre Hilfe. Bye.« Er legte auf und grinste Kendall an.
»Kannst du das denn einfach so …«
»Wie du siehst.« Er zuckte die Achseln. »Fühlst du dich jetzt besser?«
»Viel besser.« Sie kam zum Bett zurück und schlang die Arme um ihn. »Danke. Ich kann dir gar nicht sagen, wie viel mir das bedeutet.«
Und Rick konnte ihr nicht sagen, wie viel sie ihm inzwischen bedeutete. Nicht, wenn er sie nicht in die Flucht schlagen wollte. »Ich komme mit, wenn du sie abholst.«
»Musst du denn nicht arbeiten?«
»Es wird sich schon jemand finden, der die Schicht mit mir tauscht.«
Sie sah ihn dankbar an. »Das ist wirklich nett von dir. Weißt du, obwohl ich meine Schwester wirklich von Herzen liebe, haben wir nicht mehr zusammen unter einem Dach gelebt, seit ich achtzehn war. Ich habe keine Ahnung, wie man mit einem Teenager umgehen muss, noch dazu mit einem, der sich einbildet, die ganze Welt wäre gegen ihn.« Sie erschauerte plötzlich, als drohe die Last der Verantwortung sie zu erdrücken. »Sie wird mich gar nicht an sich heranlassen.«
»Sie hat dich angerufen und um Hilfe gebeten, nicht wahr? Ihr zwei werdet schon lernen, miteinander auszukommen.«
Kendall schüttelte den Kopf. »Sie hat sich wohl hauptsächlich deswegen an mich gewandt, weil sonst keiner da ist. Ich hatte so den Eindruck, sie denkt, mir würde nicht viel an ihr liegen. Das stimmt zwar nicht, aber irgendwie kann ich sie schon verstehen – ich habe bislang nicht allzu viel getan, um ihr das Gegenteil zu beweisen.« Bedrückt ließ sie den Kopf hängen. Sie schien alles andere als stolz auf sich zu sein.
Rick legte einen Finger unter ihr Kinn und hob es an. »Kendall, du bist ihre Schwester, nicht ihre Mutter. Du hattest mit deinen eigenen Problemen zu kämpfen. Aber jetzt, wo sie dich braucht, bist du für sie da, und nur das zählt.«
Tröstend strich er mit der Hand über ihren glatten Rücken. Der Zauber dieser Nacht war verflogen, verdrängt worden von der Realität in Gestalt eines vierzehnjährigen Mädchens. Rick empfand sowohl für Kendall als auch für Hannah tiefes Mitgefühl. Zwar war er nicht gerade begeistert, nun nicht mehr so viel Zeit allein mit Kendall verbringen zu können, wie er geplant hatte, aber er war entschlossen, ihr zu helfen, die Probleme zu bewältigen, die da auf sie zukamen.
Sie schenkte ihm ein schwaches Lächeln. »Danke. Ich werde versuchen, meine Eltern ausfindig zumachen, sofern das überhaupt möglich ist. Sie sind irgendwo in Afrika auf einer Expedition.«
»Und haben vermutlich kein Handy dabei.«
»Leider. Also bleiben alle Entscheidungen in Bezug auf Hannah an mir hängen.« Sie seufzte. »Und ich habe ihr versprochen, sie nicht nach Vermont Acres zurückzuschicken. Jetzt muss ich sie im Herbst in einer Schule unterbringen, wo sie sich halbwegs wohl fühlt.«
»Zu schade, dass du dich standhaft weigerst, dich irgendwo auf Dauer niederzulassen.«
Sie straffte sich und warf ihm einen finsteren Blick zu. »Was soll das denn heißen?«
Rick winkte ab. »Nichts.« Im Stillen verwünschte er sein vorlautes Mundwerk. »Aber vielleicht wäre es das Beste für Hannah, wenn du in Yorkshire Falls bleiben würdest.«
»O nein!« Kendall schüttelte den Kopf. »Mir hat es schon gereicht, so lange in New York City festzusitzen.« Sie senkte den Blick, weil sie ihm nicht in die Augen sehen konnte.
Kämpfte sie gegen den Wunsch an, doch hier zu bleiben? Rick hoffte es, denn irgendwann im Lauf dieser Nacht war ihm klar geworden, dass er sich bis über beide Ohren in Kendall Sutton verliebt hatte, obwohl er entschlossen gewesen war, es nicht so weit kommen zu lassen. In dem Moment, als er sie in ihrem Hochzeitskleid am Straßenrand gesehen hatte, war es um ihn geschehen gewesen.
Die Ankunft ihrer Schwester gab ihm die Gelegenheit, Kendall davon zu überzeugen, dass Yorkshire Falls ihre
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