Der Tag der zuckersueßen Rache
ich schauen uns an.
»Willst du damit sagen, dass es ihn wirklich gibt?«
»Ja, Lydia, es gibt ihn wirklich.« Em und ich fragen leise, wie aus einem Mund: »Cassie, was hat er dir angetan?« Als das Taxi in ihre Straße einbiegt, strafft sie ihre Schultern, dreht sich zu uns und sagt: »Er hat mir nicht wehgetan oder so, o.k.?« Wir warten, während sie jeden von uns einen Augenblick lang mustert, als versuche sie, eine Entscheidung zu treffen. Sie sagt: »Er war einfach nur nicht besonders nett zu mir.« Und dann schweigt sie. Bei Cass zu Hause ist alles stockdunkel, weil ihre Mum noch auf der Arbeit ist. Wir bringen sie ins Haus und führen sie direkt ins Bad. Em lässt Wasser in die Wanne laufen und ich finde ein Schaumbad und wir beobachten alle drei, wie ich die halbe Flasche in die Wanne leere. Cass sitzt auf dem Wannenrand, der Regen tropft immer noch von ihr herab, und sie zittert. Em und ich gehen aus dem Bad ins Wohnzimmer und Em beginnt sofort, in Lichtgeschwindigkeit auf mich einzureden, aber ich höre ihr kaum zu. Ich denke an Cass’ Vater und seinen Lieblingsspruch: »Na, jetzt hast du den Bogen raus!« Bei ihm klang es überhaupt nicht doof, ganz anders als bei meinem Dad. Dazu sein kroatischer Akzent. Und es klang, als würde er es wirklich so meinen. Zum Beispiel, wenn Cass mit einem besseren Zeugnis als sonst nach Hause kam. Oder wie damals, als sie zehn war und heimlich turnen geübt hatte. Sie rief ihren Vater nach unten und wir mussten uns alle an der Wand aufstellen und dann hat sie uns mitten im Wohnzimmer einen Flickflack vorgeführt. Mir geht die ganze Zeit nur ein Gedanke im Kopf herum: Wie kann eine Person einen derart weiten Weg zurücklegen? Von dem Tag, an dem sie herausfindet, dass ihr Vater sterben wird, bis zu diesem Augenblick, Monate später, als sie allein in der Dunkelheit kauert, im Regen, leise weinend, den Körper zu einem Ball gekrümmt? Und ich hasse mich dafür, dass ich das zugelassen habe.
Der Geheimauftrag
Geheimauftrag
Für Emily Thompson und Cassie Aganovic
Nehmt ein leeres Blatt Papier.
Schreibt eure Größten und Geheimsten Ängste auf das Blatt.
Faltet das Blatt zu einem kleinen Quadrat.
Trefft euch heute in der Mittagspause und bringt eure Geheimaufträge mit.
NIEMAND wird die Geheimaufträge lesen.
Stattdessen werden sie hinten in Lydias Notizbuch geklebt und versiegelt.
In ZEHN JAHREN wird jeder Geheimauftrag von uns gemeinsam geöffnet und gelesen.
Das klingt vielleicht einfach, aber es ist die wichtigste Aufgabe eures Lebens. Euer Geheimer Meister wird diesen Geheimauftrag ebenfalls ausführen. Der Auftrag ist wie immer Pflicht und für alle verbindlich und keiner der Briefe wird von Unbefugten gelesen werden.
Emilys Geheimauftrag
O.k., schön. Hallo, ihr Mädels in zehn Jahren. Ich hoffe nur, dass wir mittlerweile zusammen in einer Wohnung mit Blick auf die
Harbourbridge leben. An Silvester können wir dann auf dem Balkon sitzen, die Beine über das Geländer baumeln lassen, unsere
angemalten Zehennägel durch die Luft schwingen und Piña Cola-
das trinken.
Außerdem hoffe ich, dass es in unserem Haus einen Poiretier
gibt und einen Teppich, der sich unter nackten Fußsohlen ganz
weich und flauschig anfühlt, und ich hoffe, wir rufen uns ständig
albernes Zeug zu wie: »Oh, Cass, Matt Damon möchte wissen,
warum du ihn nicht zurückrufst? Er fragt, ob dir die Ferngespräche zu teuer wären? Ha! Wie witzig von ihm, wo er doch weiß,
wie reich wir drei sind.«
Meine Gedanken sind so chaotisch wie die Straßen von Hongkong.
Es ist schon seltsam, für die Zukunft zu schreiben, und ich würde
Dir gerne danken, Lydia, weil Du uns diesen Geheimauftrag aufgegeben hast. Hoffentlich hilft er dabei, dass Cass uns endlich erzählt, was ihr zugestoßen ist. Ich weiß zwar nicht, wie das funktionieren soll, aber ich weiß, dass Lydias Geheimaufträge uns immer in die richtige Richtung führen.
Am wichtigsten ist es mir, Cassie zu sagen, dass es mir das Herz
gebrochen hat, als ich sie letzte Nacht ganz allein im Regen im
Wäldchen sitzen sah.
Hallo Lydia, ich wette, Du bist längst eine weltberühmte Bestsellerautorin geworden.
Gut, o.k., ich glaube, wir müssen dringend etwas tun, um Cassie
zu helfen, und die Aufgabe lautet ja: Wovor habe ich Angst?
Ich weiß es.
Meine Tante June hat eine Allergie gegen Schokolade entwickelt
und bekommt jetzt davon Migräne. Meine größte Angst ist es,
eines Tages dieselbe Allergie zu haben.
Bitte
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