Der Tag der zuckersueßen Rache
zuzugeben,
damit sie sich irgendwann wieder besser fühlen kann. Wir überlegen,
ob wir ihre Mutter informieren oder die Therapeutin anrufen sollten,
zu der sie geht.
Und dann trifft es mich plötzlich, wie aus dem Nichts:
das Wäldchen.
Liz sagte, sie habe Cass am letzten Schultag vor den Ferien im Wäldchen gesehen. Das war genau der Tag, an dem Cass mich im Blue Danish Café treffen sollte und nicht kam. Sie sagte damals, sie wolle sich
vorher noch mit jemandem treffen. Und da war sie dann also? Unter
einem Baum im Wäldchen?
»Und was ist, wenn sie jetzt gerade, in diesem Moment, auch im Wäldchen sitzt?«
Em starrt mich an und schaut dann aus dem Fenster auf den dunklen
Himmel und den strömenden Regen.
»Vielleicht geht sie ja immer dahin«, sage ich, »um ihren imaginären
Freund zu treffen?«
Em schüttelt den Kopf und flüstert: »So verrückt kann sie doch unmöglich sein.« Aber sie greift nach ihrem Handy und ruft Cass zu Hause an. Niemand meldet sich. Dann versucht sie es auf Cass’ Handy, aber es ist ausgeschaltet. Deshalb schickt sie eine SMS: Alles o.k.? Aber auch darauf erhält sie keine Antwort. Uns ist sofort klar: Wir müssen zum Wäldchen. Und wir können es nicht fassen, dass wir im Café herumgehockt und Zeit vertrödelt haben. Es schüttet und der Wind bläst so stark, dass der Regen trotz der Schirme schräg von vorn in unsere Gesichter peitscht. Wir nehmen ein Taxi zurück zur Schule und rennen auf den Schulhof. Der Wind versucht, mir den Regenschirm aus der Hand zu reißen, Ems Schirm wird regelrecht umgestülpt. Es ist so dunkel, dass wir kaum etwas zwischen den Bäumen erkennen können, als wir zum Wäldchen kommen. Ich hätte erwartet, dass Em zögert, weil sie Angst vor der Dunkelheit hat, aber sie stößt das Tor auf, rennt schnurstracks zwischen die Bäume und prallt prompt mit dem Kopf gegen einen Ast. Dann stehen wir da, der Regen trommelt auf unsere Schirme und klatscht gegen unsere nackten Beine und unsere Schuhe versinken schmatzend im Schlamm. Meine Augen fangen an, sich an die Schatten zu gewöhnen, und ich sehe glänzende Bäume und dürre Äste, die sich im Wind wiegen. Em ruft: »Da ist sie.« Sie stolpert weiter durch den Matsch und endlich sehe ich sie auch – eine verschwommene blaue Gestalt, die unter einem Baum sitzt. Beim Näherkommen sehe ich, dass es Cass ist, und eine schreckliche Kälte gräbt sich fingernagelartig in meine Schultern, weil sie ganz zusammengekrümmt dasitzt und sich seltsam vor-und zurückwiegt. Da erst sehe ich, dass sie weint. Zu ihren Füßen liegt ein zusammengeklappter Regenschirm und überall um sie herum sind Fetzen von zerrissenem Papier verstreut. Wir kauern uns neben sie und versuchen beide, unsere Regenschirme über sie zu halten, und sie verhaken sich ineinander und es hat sowieso keinen Zweck mehr, weil Cass bereits
völlig durchnässt ist. Über ihr Gesicht strömen Regen und Tränen.
Sie drückt einen schwarzen Ordner an ihre Brust und ich habe auf
einmal dieses Gefühl, dass wir ihn ihr unbedingt wegnehmen sollten,
aber ihre Finger krampfen sich noch fester darum.
Wir helfen ihr auf und rennen mehr oder weniger mit ihr aus dem
Wäldchen und halten ein Taxi an.
Em sagt dem Fahrer Cass’ Adresse und erklärt ihm, wie er dorthin
kommt. Cass lehnt an der Tür; Regenwasser rinnt an ihr herab und
durchnässt den Sitz.
Zuerst hört man nur den Scheibenwischer des Taxis.
Dann sagt Cass: »Ich dachte nicht, dass er kommen würde.«
»Wer?«, fragt Em.
»Matthew. Mein Brieffreund. Ich dachte nicht, dass er kommen würde.«
Der richtige Zeitpunkt, es ihr zu sagen.
»Natürlich kam er nicht«, sagt Em langsam, »weil es keinen Matthew
Dunlop gibt.«
Cass lacht hohl und sagt: »Ach ja? Ich habe ihn aber heute Abend getroffen.« Dabei lächelt sie so seltsam.
Em und ich sagen beide: »Er war da?« Aber ehe Cass antworten kann,
beugt Em sich vor und befiehlt dem Fahrer, die rechte Spur zu nehmen.
»Cassie«, sagt Em und lehnt sich wieder zurück. Sie vergisst ganz, ihre Befehlsstimme wieder abzuschalten. »Es gibt keinen Matthew
Dunlop. Es gibt keinen Schüler an der Brookfield, der so heißt.«
»Gibt es doch.«
»Wir wissen, dass es ihn nicht gibt.« Sie bemüht sich, sanft zu klingen. »Charlie und Seb haben es für uns übergeprüft.«
Cass schlägt einen Moment lang die Augen auf, dann lächelt sie wieder
so komisch und sagt: »Logisch. Er hat natürlich nicht seinen eigenen
Namen benutzt.«
Em und
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