Der Tag ist dein Freund, die Nacht dein Feind (German Edition)
jetzt WIRKLICH gerne zu ihrem Anwalt nach oben gehen, der mich extra aus New York hierher gebeten hat, um die Angelegenheiten meiner Mutter zu klären! Oder möchten Sie ihm erklären, warum Sie mich hier aufgehalten haben? Und hören Sie auf, mir Ihr Kaugummi entgegen zu blasen! Das ist ja widerlich!“
Ohne ein weiteres Wort nahm die andere schnippisch den Hörer in die Hand und schob ihren Kaugummi noch dreimal im Mund herum, bevor sie, plötzlich mit zuckersüßer Stimme, ins Telefon hauchte: „Mr. Caine, hier ist eine junge Dame für Sie…“
„Emily Watson!“ „Eine Emily Watson, Sir. Soll ich… ja, gern. Vielen Dank.”
Sie wandte sich der Besucherin zu und antwortete genauso zickig wie vorher: „Mr. Caine erwartet S ie. Erster Stock, rechter Flur . Bitte klopfen Sie, bevor Sie eintreten.“
Hallo? Gehörte das nicht zum allgemeinen guten Benehmen? Was dachte diese Person eigentlich, wen sie vor sich hatte? Oder nahm sie automatisch an, dass schlechtes Benehmen wie ihres zur Standartausrüstung gehörte? Wutschnaubend ging Emily nun endlich die große Freitreppe hinauf und warf dem Sicherheitsbeamten dabei noch einen wütenden Blick zu, weil er sie an diese Zicke verwiesen hatte.
Als Emily die Kanzlei betrat, war sie von der angenehmen Atmosphäre überrascht und ließ ihre Wut langsam abklingen . So kühl die Empfangshalle des Gebäudes gewesen war, so warm und einladend waren diese Räumlichkeiten. Eine Holzvertäfelung verlief auf halber Höhe an sämtlichen Wänden entlang, die Tapete darüber war hellgelb. An beinahe jeder Wand hingen farbenfrohe Kunstdrucke, und in dem kleinen Wartebereich luden tiefe, cremefarbene Ledersessel dazu ein, gemütlich in den vorhandenen Zeitschriften zu blättern. Emily warf einen Blick auf das Angebot: Segel- und Pferdezeitschriften, Prospekte für die Haus- und Gartengestaltung, ein paar Klatschblätter. Anscheinend war alles darauf abgestimmt, sich als Mandant wohl zu fühlen. Sie konnte gut verstehen, dass ihre Mutter sich an diese Kanzlei gewendet hatte. Bei dem Gedanken an sie verspürte Emily wieder einen Stich im Herzen. Sie fand jedoch keine Gelegenheit, sich weiter in Trauer zu vertiefen, da nun ein Herr um die S echzig mit großen Schritten und einer einladenden Geste auf sie zukam und die junge Frau herzlich anlächelte. Er war mit Sicherheit eins ach t zig groß, hatte breite Schultern und ein markantes Gesicht, das von vollem, graue m Haar eingerahmt wurde. Seine sympathische Ausstrahlung war raumfüllend und Vertrauen erweckend.
„Sie müssen Miss Watson sein! Schön, Sie endlich kennen zu lernen! Ihre Mutter hat mir viel von Ihnen erzählt.“
Emily hob misstrauisch eine Augenbraue. „Hat sie das? Das überrascht mich. Wir hatten in den letzten sechs Jahren keinen Kontakt miteinander.“
„Bitte, setzen wir uns in mein Büro, da können wir in Ruhe miteinander sprechen.“ Er nickte einer älteren Dame zu, die, von Emily unbemerkt, die ganze Zeit an einem kleinen Tisch im Vorzimmer gesessen hatte. Emily zuckte leicht zusammen, als sie die Frau bemerkte und errötete. Normalerweise war es nicht ihre Art, Menschen zu übersehen. Um ihren Fehler wieder gut zu machen, schenkte sie der Dame schnell ein freundliches Lächeln und nickte.
„Helen, machen Sie uns bitte einen frischen Tee, ja? Oder trinken Sie lieber Kaffee, Miss Watson?“ Emily nickte. „Ein Kaffee wäre wunderbar, danke.“
Kurz darauf fand sie sich in einem weiteren der cremefarbenen Ledersessel wieder, in den sie sich dankbar fallen ließ. Mr. Caine nahm in seinem eigenen schwarzen Leders essel auf der anderen Seite des riesigen Schreibtisches Platz. Dieser hatte von der Größe her eher Ähnlichkeit mit einem Thron.
„Nun, Miss Watson, zunächst möchte ich Ihnen noch einmal mein herzliches Beileid aussprechen. Ihre Mutter starb sehr unerwartet, und es ist sicher ein Schock für Sie.“
Emily brachte nicht mehr als ein Nicken zustande, obwohl tausend Fragen in ihrem Kopf hämmerten und nach Antworten verlangten.
„Ihre Mutter hat vor zwei Jahren ein Testament bei mir hinterlegt. Da ich es für s ie aufgesetzt habe, bzw. ihr dabei geholfen habe, kann ich Ihnen direkt sagen, was d a rin steht: Sie allein sind die Begünstigte. Warten Sie, ich hole es, dann haben wir die Testamentseröffnung quasi direkt hinter uns.“
„Entschuldigung, aber… liegen Testamente nicht normalerweise beim Notar?“
„Das ist richtig. Es wurde auch vom Notar beglaubigt, aber auf den
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