Der Tag ist dein Freund, die Nacht dein Feind (German Edition)
Tag, wenn ich an dich denke. Ich hätte dir im Leben so viel mehr ermöglichen sollen. Du hättest mehr Freiraum verdient, hättest mit Freundinnen spielen sollen wie jedes andere Mädchen.
Doch wie erklärt man seinem Kind, was nicht zu erklären ist? Als dein Vater noch bei uns war, schien alles viel einfacher zu sein. Wir hatten tatsächlich die Hoffnung, dass alles gut werden würde. Dass unser Leben von dem Fluch unberührt bleiben würde.
Doch als dein Vater umkam , wusste ich sicher, dass diese Hoffnung trügerisch gewesen war. Die Vergangenheit holt einen immer wieder ein. Du warst zu jung, um es zu verstehen. Vielleicht bist du auch jetzt noch zu jung. Aber dass du diesen Brief liest bedeutet, dass ich nicht mehr lebe, dass auch ich der Vergangenheit nicht davon laufen konnte. Und diese Tatsache macht es notwendig, dass du nun erfährst, was mich all die Jahre bewogen hat, dich zu beschützen wie meinen Augapfel.
Du hättest eine unbeschwerte Kindheit haben sollen und ich habe dir immer von Herzen gewünscht, dass du glücklich im Leben wirst. So glücklich, wie es keiner aus unserer Familie geworden ist. Vielleicht ist New York weit genug weg, vielleicht kannst du dort in Frieden leben und eine glückliche, sorglose Familie gründen.
Ich kann dir nicht erzählen, was du erfahren musst, denn du würdest es mir nicht glauben. Deswegen musst du es selbst herausfinden. Dem Testament liegt der Schl üssel zu unserem Schließfach bei und im Cottage wirst du weitere Hinweise finden, wenn du danach suchst. Wenn du herausgefunden hast, was du wissen musst, verkaufe das Cottage. Verkaufe alles, was mit unserer Familie zu tun hat, brich alle Brücken ab und kehre nach New York zurück. Wirf keinen Blick zurück und trauere nicht. Du bist die E inzige von uns, die eine Chance auf ein wirkliches Leben hat. Nutze sie.
In ewiger Liebe,
deine Mutter
Die Tochter spürte die Tränen nicht, die in Sturzfluten ihre Wangen herunter schossen. Sie spürte die Kälte nicht, die sie zittern ließ und hörte nicht, wie ihre Zähne aufeinander schlugen. Alles, was sie hörte, war das Rauschen ihres Blutes.
Ein Familiengeheimnis. Das war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. Was war so schrecklich, dass Emma Watson es nicht einmal in dem letzten Brief an ihre Tochter offenbaren konnte? War dieses Geheimnis der Grund für die tausend unbeantworteten Fragen aus ihrer Kindheit, für die Ausgrenzung durch ihre Mitschüler?
Edward Caine zeigte sich ernstlich besorgt um die junge Frau und bat über die Sprechanlage Helen erneut herein. Sie solle eine Decke mitbringen.
„Hier, legen Sie sich die um. Sie sind ja völlig fertig. Erlauben Sie?“ Er deutete auf den Brief und Emily nickte stumm.
Der Anwalt überflog die Zeilen zweimal, bevor er den Brief zur Seite legte.
„Und Sie haben keine Ahnung, was Ihre Mutter damit meinen könnte?“
„Nein. Ich… würden Sie mir jetzt den Schlüssel für das Schließfach geben? Ich denke, ich sollte wohl lieber zur Bank fahren und anfangen, das Rätsel zu lösen. Vielleicht geht es mir besser, wenn ich damit beschäftigt bin. Dann habe ich wenigstens was zu tun.“
„Sicher. Hier ist er. Wenn Sie Hilfe, Beistand oder sonst etwas brauchen, sagen Sie bitte B escheid.“
Emily bedankte sich und verließ beinahe fluchtartig die Kanzlei. Wie es aussah, würde sie also länger in London bleiben. Als sie auf die Straße trat, dachte sie kurz darüber nach, ob sie weiter in der Pension von Mrs. Mallon wohnen sollte oder lieber in das Cottage umzog. Doch der Gedanke daran, wieder d ort zu schlafen, mit dem Wissen, dass ihre Mutter dort gestorben war, widerte sie an. Außerdem hatte ihr der Brief Angst gemacht. Warum wollte ihre Mutter unbedingt, dass sie sich möglichst schnell endgültig von dem Cottage trennte ? Solange sie den Grund dafür nicht kannte, wollte sie lieber kein Risiko eingehen. Eins stand für Emily fest: A ls ihre Mutter den Brief geschrieben hatte, war sie im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte gewesen , und was immer Emma Watson bewegt hatte, musste ernst genommen werden.
Ihr nächster Gang führte die junge Waise also zur Bank. Emily rannte so schnell, dass ihr langes, kastanienbraunes Haar nach hinten flog und das Bild beinahe etwas Dramatisches hatte. Der eigentliche Grund für ihre Eile war aber, dass es wieder einmal angefangen hatte in Strömen zu regnen und sie nicht vollkommen durchnässt ihr Ziel erreichen wollte.
Der Bankangestellte sah skeptisch in die
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