Der Tag ist dein Freund, die Nacht dein Feind (German Edition)
Emily versuchte sich auszumalen, welcher Alptraum da vor ihr lag. Es gelang ihr nicht. Zu phantastisch schien die Welt zu sein, in die sie sich begeben würde.
„Emily, noch etwas. Bleib hier bei mir, solange es draußen dunkel ist. Dass dein Freund aus der Pension getötet wurde beweist, dass Roy dich schon im Visier hat. Er wird auch wissen, dass du hier bist. Er selbst oder einer seiner Handlanger wartet dort draußen auf dich, ich kann es spüren . Wenn du jetzt da raus gehst, überlebst du die Nacht nicht. Warte bis morgen früh, dann kannst du in Ruhe zurück zur Pension, dich frisch machen, vielleicht etwas schlafen und dann in der Abenddämmerung zum Friedhof gehen. Bei allem was du tust solltest du von jetzt an immer daran denken: D er Tag ist dein Freund, die Nacht dein Feind.“
Emily nickte und versuchte, den eiskalten Schauer zu unterdrücken, der ihr den Rücken hinunter lief.
Sie folg t e Edwinas Anweisungen und machte es sich noch ein paar Stunden auf deren Sofa gemütlich, bevor sie kurz nach Sonnenaufgang, als Edwina sich bereits zurückgezogen hatte, das Haus verließ und sich auf den Rückweg zur Pension machte.
7
Die letzten Sonnenstrahlen fielen durch die wenigen verbliebenen Blätter an den Bäumen des Friedhofs, als Emily am späten Samstagn achmittag mit zitternden Knien an Du t zenden von Gräbern vorbei schlich, bis sie schließlich den alten Bereich des Highgate erreichte. Dem Friedhofswärter hatte sie gesagt, sie müsse noch einmal das Grab begutachten, in dem ihre Mutter beigesetzt werden sollte. Da in zwei Tagen die Beerdigung stattfinden würde , nachdem die Autopsie einen Herzstillstand aus ungeklärter Ursache ergeben hatte, war das ein durchaus schlüssiges Argument, wenn es dem alten Mann auch etwas seltsam vorkam.
„Passen Sie auf sich auf, Lady. Und beeilen Sie sich, wir schließen bald. Außerdem hält sich niemand auf dem Friedhof auf, sobald es dunkel wird.“ Emily nickte und hatte den Alten bald hinter sich gelassen.
Dank Edwina wusste sie nun, warum niemand freiwillig nach Einbruch der Dunkelheit auf dem Highgate blieb. Sie wagte nicht daran zu denken, wie viele Menschen schon Begegnungen der anderen Art hier hatten und sich danach nie wieder in die Nähe der Gräber ihrer Lieben getraut hatten , wenn sie die Begegnung überhaupt überlebt hatten .
Um sich irgendwie beschützt und bewaffnet zu fühlen, auch wenn sie sich der Sinnlosigkeit dessen durchaus bewusst war, hatte sie den Rosenkranz, das Kreuz und das Weihwasser in ihre Tasche gepackt, bevor sie das Haus verließ. Nun holte sie das schwere Silberkreuz hervor und schloss fest ihre Hand darum, bis die Knöchel weiß hervor traten. Wenn sie der Wegbeschreibung ihrer Tante folgte, musste sie die Stelle , an der sie ihren Cousin treffen wollte, in wenigen Minuten erreicht haben. Doch als sie leise seinen Namen rufen wollte, versagte ihr vor Angst zunächst die Stimme. Erst im dritten Anlauf brachte sie ein kaum hörbares Krächzen zustande.
„Gene? Gene Watson, bist du da?“ Emily tastete sich vorsichtig weiter. Die Sonne war nun untergegangen, Gräber und Bäume traten nur noch schemenhaft hervor.
„Gene?“ Irgendwo war ein leises Rascheln zu hören. Erschrocken drehte die junge Frau sich einmal um ihre eigene Achse und dachte plötzlich bei sich, dass sie diesen Augenblick gut in einem Roman verwerten konnte.
Das Herz schlug ihr bis zum Halse, als erneut etwas raschelte, ein Ast knackte. Wieder wirbelte sie herum. „Gene? Bist du das?“
Eine ihr unbekannte Stimme bohrte sich plötzlich in Emilys Rücken und ließ sie zur Salzsäule erstarren.
„Du stinkst nach Angst, meine Süße.“
Unendlich langsam drehte Emily Watson sich zu ihrem Cousin um. Das Herz hämmerte heftig in ihrer Brust, und die Angst vor dem, was sie sehen würde, nahm ihr fast den Atem.
Bis sie plötzlich in ein Gesicht blickte, das zwar blass war, ansonsten aber eindeutig bekannte Züge ihrer Familie auf wie s . Zudem war Gene ungeheuer attraktiv. Nur die gebleckten Fangzähne des Vampirs wirkten abschreckend.
„Aha. Du b ist mutig genug, mich anzusehen. Ich hätte damit gerechnet, dass du direkt ohnmächtig wirst. Und jetzt verrate mir, woher du meinen Namen kennst.“
Emily erinnerte sich an die Worte ihrer Großtante. ‚Sag ihm sofort, wer du bist!’
„Ich heiße Emily Watson. Wir sind verwandt. Ich bin die L etzte, die aus unserer Familie noch lebt.“
Sie hatte mit Staunen gerechnet, doch Gene kicherte nur leise
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