Der Tag ist dein Freund, die Nacht dein Feind (German Edition)
und machte es sich auf einem großen Grabstein gemütlich, der halb verfallen in die Erde abgesackt war. Nur für einen Sekundenbruchteil war so etwas wie ehrlicher Respekt in seinen Augen aufgeflammt, bevor sein Blick sie wieder hämisch und belustigt abtastete.
„Soso, da bist du also nun. Ich muss dir ehrlich gestehen, dass ich nicht damit gerechnet hatte, dass du hier auftauchen würdest. Eine Flucht wäre irgendwie logischer gewesen.“
Emily nickte. Langsam verschwand ihre Angst. Gene sprach mit ihr und hatte sie nicht sofort gebissen. Also ging sie davon aus, dass ihre Überlebenschancen in Gegenwart ihres Cousins nicht schlecht standen.
„Du weißt also schon von meiner Anwesenheit.“
Wieder dieses freche Kichern, dass einem eine Gänsehaut über den Rücken jagte.
„Natürlich, was glaubst du denn? Roy hat dich gerochen, sobald du englischen Boden erreicht hattest! Er hat dich GESPÜRT. Zu lange hat er nach dir gesucht.“
„Wieso hat er mich nicht direkt getötet ? Gelegenheit genug wird er wohl gehabt haben.“
„Ich schätze, er wollte erstmal sehen, was du vorhast! Jetzt ist er allerdings sauer. Hat gesehen, dass du bei Edwina warst. Sein Überraschungsmoment ist ruiniert.“
Emily verstand. Sie wusste Be scheid und hatte bereits Mut bewiesen , deswegen konnte er ihr nicht mehr unbegrenzt Angst einjagen.
„Hör zu Gene, ich habe mit Edwina gesprochen. Roy hat einen Fehler gemacht. Seine Familie ist nicht ermordet worden. Es war ein Unfall! “
Gene sprang von dem ve rfallenen Stein und kam lauernd ein paar Schritte auf sie zu. Seine Augen begannen, rot zu leuchten. Emily konnte nur vermuten, dass ihre letzte Bemerkung ihn irgendwie gereizt haben musste. Sie wollte einen Schritt zurück machen, prallte aber sofort gegen einen dicken Baumstamm und saß in der Falle. Gene b leckte seine Zähne, als er langsam auf sie zukam.
„Herzchen, das solltest du besser nicht noch einmal sagen. Roy jagt unsere Familie seit Generationen. Bis auf dich hat er alle ausgelöscht oder uns zu Vampiren gemacht. Wir sind seine Obsession. Sein Lebensinhalt. Dich zu suchen hat ihn Jahre gekostet. Und nun flatterst du zurück in dein Nest und willst ihm sagen, dass er einen Fehler gemacht hat? Wie schnell willst du sterben, mein Herz?“
Emily starrte ihren Cousin wie gebannt an. Seine glühenden Augen, die ausgefahrenen Eckzähne… es sah gespenstisch aus, doch je näher er ihr kam, desto leidenschaftlicher und schöner wirkte er zugleich. Die junge Frau konnte sich gut vorstellen, wie sich reihenweise junge Mädchen seinem Charme hingaben, bevor sie erkannten, was er wirklich war und wollte. Sie versuchte se ine Attraktivität zu ignorieren, ebenso wie ihre Angst.
„Kannst du mich zu ihm bringen, Gene? Ich weiß etwas, d as die meisten in unserer Familie nicht wussten. Und die, die es wussten, haben sich nicht getraut, es Roy zu sagen. Aus Angst, ihm zu nahe zu kommen. Vielleicht hat er ihnen auch einfach keine Zeit gelassen, den Mund auf zu machen. “
Gene hatte seine Cousine nun erreicht, lehnte sich schwer gegen sie und ließ seinen beißenden Atem über ihr Gesicht wandern. Er musste kurz zuvor Blut zu sich genommen haben, denn der metallene Gestank kroch ihm aus jeder Pore. Seine Hände glitten langsam an ihren Seiten entlang abwärts. „Und was, liebe Emily, ist dieses große Geheimnis?“
Emily versuchte, ihm auszuweichen, doch es war unmöglich. Sie war zwischen dem Vampir und dem Baum in ihrem Rücken eingeklemmt wie in einem Schraubstock.
„Roys Familie wurde nicht ermordet. Der S cheunenbrand war ein Unfall. Edward Watson war gestürzt, und seine Laterne hatte alles in Brand gesteckt. Er hat versucht, zu retten, was zu retten war. Er wusste nicht einmal, dass sich Fremde in der Scheune befanden!“
Genes Lachen vibrierte in Emilys Brustkorb.
„ Ja, ich habe so was gehört. Edwina erzählte mir davon, lange nach meiner Verwandlung. Mein Zweig der Familie hat zu Lebzeiten leider nie erfahren, worum es eigentlich bei diesem Gemetzel ging. Aber… warum sollte Roy dir das glauben, hm? Jahrhunderte lang bemüht er sich darum, unsere Familie auszurotten, und dann kommst du daher und willst ihm erzählen, dass das alles nur ein Irrtum war? Ich kann dich zu ihm bringen, aber du wirst tot sein, bevor du ihm auch nur ins Gesicht gesehen hast. Was glaubst du wohl, warum er dich noch immer jagt, hm? Einer von uns hätte ihm schon lange erklären können, dass er einem Irrtum erlegen ist, aber uns
Weitere Kostenlose Bücher