Der Tag ist hell, ich schreibe dir
meinen Großvater zu besuchen. Mein Großvater wird sterben, seine blauen Augen, die ich so lieb habe, waren so weit fort, er sah mich von ferne an, und zugleich wie bittend. Ich sehe dich an, kleine Helen, schien er zu sagen, ich bin viermal so alt wie du, habe zwei Kriege erlebt, mehrmals alles verloren, und bin immer wieder aufgestanden und habe so vieles gewonnen, deine Mutter, ihren Bruder, unser Leben, gute Tage, die mir Gott geschenkt hat. Er würde niemals sagen, dass es genau das ist, was er mir mitgeben möchte oder was ich von ihm hätte – ein Stehaufmännchen zu sein, immer wieder das LEBEN großzuschreiben. Von der Mama kommt es auch ein bisschen, aber von ihr habe ich die melancholische Schwermut, die sich unter ihrer ganzen Arbeit versteckt. Und plötzlich stelle ich mir vor, ich könnte dich, in zwanzig Jahren vielleicht, oder wann, weil du doch älter bist als ich, verlieren. Ach, wie traurig ist das, heute kein Tanz, heute kein Tanz.
Alles Gute sendet dir deine Helen.
Helens Blick fiel auf das Bett, das so stand, dass sie sich mit dem Rücken anlehnen konnte, aus dem Fenster sehen oder lesen, und in dem Julius aller Voraussicht nach niemals liegen oder womöglich schlafen würde. Niemals würde er danach an dem blauen Blechgartentisch mit ihr frühstücken, wie ihre Nachbarin Sina, die sie hin und wieder morgens weckte und mit dem Pfisterbrot herüberkam, die sogar die Espressomaschine aufsetzte, wenn Helen vom langen Lesen die Augen noch nicht aufbekam, und die ihr von ihrem verschlossenen Freund erzählte, den Helen manchmal spätabends mit ihr nebenan reden hörte. Sie betrachtete das Matisse-Plakat, den blauen Scherenschnitt, ein Frauenakt, über dem Bett. Ihre Gedanken schweiften zurück zu dem Nachmittag, an dem Julius sie in diesem Zimmer besucht hatte, nachdem Sabrina und Anders die Bude hatten räumen müssen. Als sie ihm mitteilen musste, dass sie nicht mit Dr. Sedlitzky gehen würde. Julius, wie er auf dem Klappstuhl saß, die Beine locker übereinandergeschlagen, die schwarzen Strümpfe so lang, dass kein Stück Haut zu sehen war, obwohl das Hosenbein aus feinem Anzugstoff hochgerutscht war; die glänzend geputzten schwarzen Schuhe. Wie er sie lange angesehen hatte und schließlich gesagt hatte, er bedaure es zutiefst, doch er respektiere, dass sie sich für ihre Freiheit entschieden habe.
Sie sah einen Schwarm Krähen auffliegen, die sich gern auf dem leeren Platz zu ihren Füßen versammelten. Der Tag war dunkel verhangen gewesen. Sie hatte ihn zu Hause verbracht. Sie hatte sich angezogen, um an die Uni zu gehen, und ganz plötzlich war es ihr sinnlos vorgekommen, und sie hatte sich, so wie sie war, auf den Stuhl ans Fenster gesetzt. Erst nach einer ganzen Zeit hatte sie den Mantel ausgezogen, die Schuhe von den Füßen geschoben, hatte sich Papier geholt, um Julius weiter zu schreiben. Doch die Worte wollten sich nicht einstellen, alles, was ihr in den Sinn kam, verwarf sie sofort wieder . Die Zeit entsteht mit der Unlust, hatte sie bei Novalis gelesen. Die Melancholie lässt eine Zeiterfahrung im Untätigsein zu, die der aktive Mensch nicht kennt.
Wortlos spürte sie der Haut nach, die sie kennengelernt hatte, lauschte dem Körper wie einem Echo nach, der ihr so schmal und zierlich vorgekommen war, ganz anders, als sie es erwartet hatte, der sich ihr so vorsichtig genähert hatte, mit einer fragenden Zurückhaltung, den sie ertasten durfte, langsam, sehr langsam, überrascht von seiner Empfindlichkeit. Ihr Körper erinnerte sich an seine Hände, an denen es nicht Raues oder Grobes oder auch nur Zupackendes gab. Es war, als hätte er sofort alles abgelegt, was seine Haltung ausmachte, seine elegante Spannung, die ihn auszeichnete, mit der er sich lässig zu geben schien und in der er doch immer wachsam blieb, eine Spannung, die keinerlei Anstrengung verriet, nur lebenslange, zur zweiten Natur gewordene Gewohnheit. Als hätte er all das abgestreift, in diesem einen Augenblick, in dem er ihrem Körper begegnete, sich in ihre Hände begab, die ihn suchten, so wie er sie an sich zog, sie umarmte, schwerelos. Es war, als würde er an ihrer hellen Wärme ein anderer, zart, vorsichtig, unendlich sanft, und beide, verdutzt voneinander, waren fast ein wenig erschrocken. Von dieser Sanftheit.
Liebes, hatte er gesagt, Liebes.
Mein lieber Herr,
kennst du eigentlich die Tagebücher von Maxie Wander und Brigitte Reimann? Zwei DDR -Autorinnen, die mit etwa vierzig Jahren an Krebs starben.
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