Der Tag ist hell, ich schreibe dir
Nein, kennst du natürlich nicht, wann solltest du die auch kennengelernt haben? Also: von Brigitte Reimann muss ich dir unbedingt den nicht abgeschlossenen Roman Franziska Linkerhand empfehlen, den mir Antje-Doreen geschenkt hat und den ich gerade zu Ende gelesen habe. Er ist nicht abgeschlossen, weil sie eben an Krebs gestorben ist. Die Geschichte einer jungen Frau im sozialistischen Wunderland, der gerade noch optimistischen DDR im Aufschwung, die Geschichte der Anpassung von Träumen an die Wirklichkeit, ohne sie aufgeben zu wollen, von den Kämpfen, den Männern, der Liebe … Das Ganze wie ein BRIEF an ihren Geliebten verfasst, Ben heißt er, lieber Ben, oder du, Ben, mit Einschüben über ihre Kindheit, einer ganz großartigen Beschreibung des Übergangs zur Pubertät, was für ein blödes Wort für diese wichtige Zeit, und von Anfang an weht das traurige Adieu, das sie diesem Liebsten sagen muss, hindurch. Denn sie hat die Vorstellung von einem Menschen geliebt, und nun steht er selbst wie eine dritte Person da, und es will und will nicht passen.
Dritter Teil
IV.
Grenzgänge
Spionage wird es immer geben.
John le Carré, zitiert im Stern, 1989
» Entschuldigen Sie, dass ich das so fragen muss«, Jonathan Kepler hatte bei ihrem ersten Gespräch gezögert, nach Worten gesucht, » aber es liegt so nahe, es drängt sich auf, so eine hübsche junge Frau, ein gut aussehender Mann, eine jahrelange Verbindung.«
Helen ahnte schon, was kommen würde. Sie sah ihn so ausdruckslos wie möglich an. Ich frage dich gleich mal nach deiner Ehe, dachte sie.
» Ich meine, gab es da nicht eine Verliebtheit? Oder sogar mehr?«
» Wissen Sie was?«, platzte es aus ihr heraus, schneller als sie es wollte, » wenn zwei Leute sich so selten sehen, kann es das wohl nicht sein, was sie zusammenhält, oder?«
Verdutzt sah Jonathan Kepler sie an. Helen war ganz ruhig. Als die anderen Journalisten in den folgenden Tagen, und Jahre später, beim nächsten runden Gedenktag, wie absurd, sie danach fragten, blieb sie einfach dabei. Es war zu kompliziert, den Leuten, wildfremden Menschen noch dazu, die verschiedenen Äußerungen der Nähe zu erläutern. Satz drauf, Deckel zu, nein, das wollte Helen nicht.
1 Nord-Süd 1986
Der erste Wohnsitz der Seele sind die Füße. Dort beginnt ihr Dasein; denn durch die Füße geht sie in den Körper über.
Denis Diderot, Die Verräter (Les bijoux indiscrets). Experimental-Metaphysik.
Es musste wenige Wochen nach ihrem Umzug gewesen sein, 1986, noch vor Tschernobyl, dessen war sich Helen sicher, als sie versuchte, sich zu erinnern, denn sie hätten über das Unglück gesprochen, in jedem Fall. Also Mitte April vielleicht. Ein ungewöhnlich heißer Frühlingstag. Sie war spät ins Hotel am Kurfürstendamm gekommen, es war schon fast Mitternacht. Es wird die Sache vermutlich nicht leichter gemacht haben, bei diesem ersten Treffen in Berlin, nach ihrem letzten in München, im Februar, fast zwei Monate war es her. Welten lagen für Helen dazwischen. Sie hatte sich, nachdem sie ihren Umzug beschlossen hatte, in München treiben lassen. Sie hatte einen Studenten der Technischen Universität kennengelernt und mit ihm einige Nächte verbracht, in gegenseitigem Einverständnis über Sinn und Zweck dieser Nächte, und am Ende hatte er ihr geholfen, das große Bett für den Umzugswagen abzubauen. Julius hatte immer wieder angerufen, er hatte ihr Dinge ins Ohr gesagt, die sie anhörte, die sie irritierten, denen sie gern geantwortet hätte. Zu spät, dachte sie, das alles kommt viel zu spät. Es hat gar keine Relevanz mehr, für sie beide, dachte sie, auch wenn Julius es vielleicht anders sah.
Später erinnerte sich Helen immer daran, wie sie am ersten Tag in der neuen Wohnung in Berlin auf der Leiter stand; das Radio lief laut; sie putzte die vor Schmutz blinden Fenster, die ihre Vorgängerin hinterlassen hatte. Sie wollte in den Hinterhof sehen können, auf die Brandmauer gegenüber, das Stück Himmel zwischen den Häusern. Die Musik im Radio war anders als in München, weniger Italo-Schnulzen, mehr Rock; plötzlich unterbrach Glockenläuten das Programm, mehrere Schläge, und eine sonore Männerstimme sagte: » Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Helen erstarrte auf der Leiter. War etwas Außerordentliches geschehen? Die Nachrichten folgten, sie horchte angestrengt, den nassen Lappen in der Hand, ohne zu verstehen, dann kam das Wetter. Sie zwang sich aus der Erstarrung, rief ihre Freundin Katrin
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