Der Tag ist hell, ich schreibe dir
an, die schon seit zwei Jahren in Berlin lebte. » Was ist das?« Katrin kicherte, dann sagte sie leicht spöttisch: » Das kommt jeden Tag um zwölf. Der RIAS , Eine freie Stimme der freien Welt, liest die Menschenrechte vor, für unsere lieben Mitbürgerinnen im Osten, damit sie es hören, und gegen die Politiker auf der anderen Seite. Die Glocken sind die Freiheitsglocken des Schöneberger Rathauses. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Willkommen in der geteilten Stadt.«
Julius spürte Helens Unruhe, was ihn betraf; sie hatten etliche Male miteinander telefoniert, doch jetzt, als sie sich verabredeten, war er beklommen, fragte, ob sie denn bei ihm bleiben würde, wie zuletzt.
» Wieso denn nicht?«, fragte sie unbekümmert zurück.
Am Abend selbst war er allerdings doch etwas verärgert, dass sie nicht früher Zeit für ihn hatte. Sicher, der Termin hatte sich kurzfristig ergeben. Helen hatte ihm gesagt, dass sie an diesem Abend eine Verabredung hatte, und er hatte sich darauf eingelassen.
» Es tut mir leid, Julius, ich würde sie auch absagen, wenn ich sie nicht schon einmal verschoben hätte und wenn es nicht der Vater meiner Freundin wäre. Er ist Professor für Umwelttechnologien, er hat nicht oft Zeit, und er bittet mich nun schon um diesen Abend, seit ich in Berlin bin.«
» Mit anderen Worten, seit zwei Wochen?«
» Na ja, drei. Außerdem hab ich es ihm schon im Februar versprochen, als ich mit Lotte hier war, du weißt doch, an dem einen Wochenende.«
» Ich verstehe«, sagte Julius. » Es ist ja auch sehr kurzfristig. Ich hätte ohnehin erst ab zehn Uhr Zeit, denn vorher gibt es noch ein Meeting. Willst du nicht nach deinem Essen ins Hotel kommen?«
» Ja, kann ich, aber ich glaube, ich kann nicht um halb zehn schon vom Essen aufstehen und rausrennen.«
» Das ist mir schon klar, aber du kannst auch später. Du kannst jederzeit zu mir kommen, ich freue mich!«
» Wirklich?«
» Wirklich.«
» Und du bist mir dann nicht böse?«
Er konnte ihr nicht böse sein. In dem Augenblick, in dem er ihr die Tür der Suite öffnete, war sein Ärger verflogen. Er hätte ihn nicht einmal künstlich aufrechterhalten können. Er begrüßte sie, indem er sie in die Arme nahm.
» Helen«, sagte er. Dann schob er sie, wie er es gern machte, auf Armeslänge von sich und betrachtete sie genau.
» Was hast du denn mit deinem Haar gemacht? Es ist aber arg kurz geraten!«
» Gefällt es dir nicht?«
» Um ehrlich zu sein … fand ich es länger schöner.«
Bedauernd strich er ihr über den Kopf, eine Strähne fiel in die Stirn. Sie roch nach Restaurant, nach Knoblauch und Wein, Zigarettenrauch. Sie trug ein schwarzes, eng anliegendes Sommerkleid mit einem breiten rosa Gürtel.
» Du siehst ja ganz anders aus als in München!«, sagte er.
Helen lachte, zog ihre Schuhe mit den hohen Absätzen aus, lief barfuß über den Teppich, sagte, » wie weich der ist«, und ließ sich in einen der großen Sessel fallen. Sie schoss im selben Augenblick wieder hoch und wollte zu ihren Schuhen, die sie einfach liegen gelassen hatte.
» Lass doch«, lachte er, » lass sie ruhig liegen!«
» Ich habe einen Schwips«, sagte Helen entschuldigend, » er hat mich überredet, ich habe ein ganzes Glas Wein getrunken.«
» Ein ganzes Glas?«
Julius lachte.
» Möchtest du jetzt noch etwas trinken? Mach’s dir doch bitte bequem!«
Julius freute sich, Helen endlich wiederzusehen. Er hatte erstaunt die Geschwindigkeit registriert, mit der sie ihren überraschenden Entschluss, die Stadt zu wechseln, umgesetzt hatte. Er hatte sich beschwert, dass er keine Briefe mehr bekam, eine Frage schwang darin mit, die Helen nicht hören wollte. Sei mir nicht böse, schrieb sie hastig, ich muss so viel erledigen, ich habe keine ruhige Minute mehr! Sie war wie ausgetauscht, und seit sie in Berlin war, hatte sie nur noch geschwärmt, von den Leuten und den kaputten alten Häusern, den Spuren der Geschichte, den alten Inschriften über den Läden, vom Dreck, vom Lärm, vom Nachtleben ohne Sperrstunde, von den Kassiererinnen, die grelle Perücken trugen und angeklebte Wimpern hatten, von den Männern in Arbeiterhosen in der U-Bahn, vom riesigen türkischen Markt, vom mehrsprachigen Stimmengewirr, vom unübersichtlichen Straßenbild, von der Sprache. Hier guckt niemand, wie du gekleidet bist, hier sortiert dich keiner nach dem ein, was du hast, sie sehen dir einfach ins Gesicht, es gibt keinen Ausschluss. Sie fuhr die ersten Tage mit dem Bus
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