Der Tag ist hell, ich schreibe dir
einen Geist an, schreit, seine Mutter kommt gerannt, reißt ihn in ihre Arme. » Julius«, stammelt sie, » Julius.«
9 Versenk, ach
Zwanzig Jahre nach Helens und Julius’ Winternacht und siebzehn Jahre nach Julius’ Tod, als Helen von einem der Filmproduzenten angesprochen wird, ihm ihre Geschichte mit Julius zu überlassen, hat sie sofort dieses eine Bild oder vielmehr diese Bilderfolge vor Augen: das in bläuliches Licht getauchte Hotelzimmer mit dem Mann am Fenster, die Kamera, die sich ihm langsam nähert, die von den Füßen langsam hochwandert an den nackten Beinen, die überblendet werden in die Beine eines jungen Mannes in einfachen, schmutzigen Hosen aus grauem Drillich, der durch die Trümmer seiner Heimatstadt läuft, der durch das zerbombte, zerstörte Deutschland läuft, durch Asche und meterhohen Schutt auf den Straßen, und wie aus diesen Beinen des laufenden Jungen die Türme der Bank wachsen, der Deutschen Aufbau, wie sie aus den Trümmern hervorwachsen, vor der Kulisse der neu erbauten Stadt Frankfurt. Nicht die Hypobank, nicht die Dresdner Convers, nicht die Bayerische Unionsbank, nein, die Deutsche Aufbau musste es sein. Ihr seid Deutschland, ihr verkörpert das Beste unseres Landes.
Und Helen stellte sich vor, wie der Blick des Mannes am Hotelzimmerfenster dem Mädchen folgt, das durch den Schnee läuft, und wie sich die Bilder in eine andere Schneelandschaft öffnen, durch die er läuft, wieder der Junge, der läuft, durch die Berge, und dann sah sie das Mädchen, das langsam durch die Straßen der Stadt lief, und sie hörte immerzu das Lied von Brahms Versenk, oh versenk, mein Lieb, dein Leid, das still und immer wieder aufwallend drängte, in dieser einzigartigen, immer wieder zu erkennenden Brahms’schen Dringlichkeit, seiner halb ansetzenden, wieder zurücksinkenden, wie resignierenden Wiederholung innigster Phrasen, als hielte er etwas, das in ihm hochdrängt, mit letzter Kraft zurück,
Versenk, oh versenk, dein Leid, mein Kind
in die See, in die tiefe See!
Ein Stein verbleibt auf des Meeresgrund,
mein Leid kommt stets in die Höh!
Und die Lieb, die du im Herzen trägst,
brich sie ab, brich sie ab, mein Kind!
Für diese Wanderung durch die verschneiten Straßen Münchens würde sie immer dieses eine Lied wählen, weil sie in dieser Nacht eine Entscheidung getroffen hatte, ohne es zu wissen, sie war es gewesen, die diese Entscheidung traf, Julius hatte noch nicht einmal danach gefragt, und als Helen viele Jahre später klar wurde, dass er ihr darin seine Zurückhaltung gezeigt hatte und seinen Zweifel, was er für sie sein könnte, war er längst von der Bombe erfasst und nicht mehr am Leben, und sie hätte ihm noch nicht einmal sagen können, dass sie es im Nachhinein verstanden hatte und dass sie weinte, als sie es verstand.
10 Briefe in der Nacht
26. Februar 1986
Jetzt ist es Nacht, lieber Julius, und ganz ruhig. Eben noch klapperte jemand vorbei, den ich sonst nie höre, denn es ist vier Uhr, der Zeitungsausträger, der die druckfrische Zeitung gegen die Türen donnert. Kaum ein Auto fährt auf der Straße unten. Die Pinakothek ist auch jetzt beleuchtet, sodass es in meinem Zimmer nie ganz dunkel ist. Es ist ganz still. Ich lese Flaubert. » Er reiste. Er lernte die Schwermut der Dampfschiffe kennen, das fröstelnde Erwachen unter dem Zelt, das betäubende Einerlei von Landschaften und Ruinen, die Bitterkeit jäh zerrissener Bindungen.«
Helen mochte nicht mehr zu Madame Pompadour gehen. Madame Pompadour hatte in einer Zeit gelebt, in der die Vernunft das Gefühl regierte, in ihrer Situation ganz besonders. Sie hätte ihr vermutlich Ratschläge erteilt, die sie nicht hätte hören mögen. Auch Madame Pompadour hatte den Liebeskummer kennengelernt, das wollte Helen ihr keineswegs absprechen, als sie sah, dass der König, Louis, neue Gespielinnen brauchte, um sich von seiner entsetzlichen Melancholie abzulenken, aber Madame Pompadour hatte schon zu viel Verantwortung für Frankreich übernommen, um sich von ihren persönlichen Regungen leiten zu lassen und die Eifersüchtige zu mimen. Sie kümmerte sich um die Staatsgeschäfte. Nichtsdestotrotz war bekannt geworden, dass sie in ihren Gemächern weinte, und sie hatte, kluge Frau, die sie war, Trost bei einigen Vertrauten gesucht.
Liebster Julius,
ich weiß nicht, ob dir jemand meine Briefe nachsendet, wo auch immer du gerade sein magst, aber ich muss dir dringend schreiben. Ich war ganz überraschend in Bad Wildbad, um
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