Der Tag ist hell, ich schreibe dir
wie ein Lauffeuer herum, sogar bei der Landbevölkerung. Einer besitzt ein Radio, die Nachricht verbreitet sich in Windeseile. Acht, oder auch zehn der Jungen, die in Richtung Südtirol unterwegs sind, nehmen sich sofort das Leben. Sie erschießen sich, sie hängen sich auf, einer nach dem anderen.
Julius ist mit Luis bei einem Bauern untergeschlupft, auf dem Weg zu Luis’ Familie. » So ein Feigling«, sagt Luis. Julius sagt gar nichts. Er kann es alles nicht fassen.
Die Alliierten, Franzosen, Russen, Engländer und Amerikaner, besetzen ganz Deutschland. Deutschland wird befreit. Für die Jungen und viele andere aber heißt es: Deutschland kapituliert. Deutschland hat verloren. Die Amerikaner seien freundlicher als die Franzosen, hören die Jungen.
Am 8. Mai endet der Krieg. Deutschland kapituliert. Die Menschen in den Konzentrationslagern werden befreit.
Wenige Tage später nähert sich eine Gruppe von abgemagerten Häftlingen aus Dachau durch den Wald den Villen der Schule von Feldafing. Als sie feststellen, dass jene leer stehen, schlagen sie bei einer das Fenster ein und nehmen Zuflucht darin. Sie durchsuchen das ganze Haus nach Essen und finden in der Vorratskammer Kaffee, Zucker und Mehl. Sie stopfen es in ihre Münder, bis sie es wieder ausspeien. Sie lösen die Nahrungsmittel in Wasser auf und versuchen, sie zu kochen. Es gibt kein Heizmaterial. Sie können nichts bei sich behalten.
General Eisenhower ordnet an, die Villen und die Baracken der Schule für die Menschen aus dem Konzentrationslager einzurichten. Sechstausend Menschen kommen aus dem Lager Dachau nach Feldafing. Sie wohnen in den Baracken und in den Villen. Die meisten leiden an Typhus und Fleckfieber. Alle sind dramatisch unterernährt. Amerikanische Carepakete kommen, mit Nescafé und Zigaretten. Drei russische Ärzte unterstehen einem ehemaligen Schüler der Reichsschule, der inzwischen Arzt ist. Bei der Entnazifizierung sagen sie für ihn aus: » Kleiner Doktor, guter Doktor.«
Du musst mir erzählen!, bat Helen.
Ich bin nicht wichtig, antwortete Julius.
Im Juli macht Julius sich auf den Weg von Tirol nach Essen. Er hat ein Hemd, eine Hose, seine Pelerine. Der Bauer, bei dem er für eine Nacht unterkommt, gibt ihm ein Brot, ein Stück Wurst und ein paar Äpfel für den Weg. Julius braucht eine knappe Woche. Er läuft quer durch das zerstörte Land. Er läuft über Wiesen, durch Städte, an Bahngleisen entlang. Er passiert Kontrollen und zeigt seinen Ausweis KLV 39. Er sieht Trümmer, Ruinen, Schuttberge, Städte, grau von Asche. Er sieht verwundete Soldaten, die ihm entgegenhumpeln, Männer, die an Bäumen aufgehängt sind, Frauen, die nach ihren Kindern suchen. Verwüstung überall.
Er sieht amerikanische Soldaten und englische in ihren Jeeps und auf der Straße. Sie schenken Kindern Kaugummis und Schokolade.
In Julius breiten sich Ohnmacht und Wut aus; im Wechsel rasen ihm Phrasen über Deutschland durch den Kopf, die er gelernt hat, Hasstiraden gegen Engländer und Franzosen, die er gelernt hat. Er sieht Anschläge mit Zeitungen, auf denen Fotografien aus den Konzentrationslagern zu sehen sind, und er wird still.
Julius singt und pfeift, um sich Mut zu machen, während er läuft. Nachts liegt er irgendwo zusammengerollt und sieht in den Sternenhimmel. Tränen laufen ihm über die Wangen; er fühlt sich dumpf. Sein Kopf schmerzt. Er redet sich ein, es wäre alles nur ein Albtraum.
Ist das der Morgen? Welche Sonne geht auf? Wie groß ist die Sonne. Sind das die Vögel? Ihre Stimmen sind überall.
Alles ist hell, aber es ist kein Tag.
Alles ist laut, aber es sind nicht die Vogelstimmen.
Das sind die Balken, die leuchten. Das sind die Fenster, die schrein. Und sie schrein, rot, in die Feinde hinein, die draußen stehn im flackernden Land, schrein: Brand.
Rilke. Julius murmelt die Bruchstücke vor sich hin. Er findet manchmal Beeren am Wegrand. Einmal schenkt ihm eine Bäuerin Milch und etwas Brot. Mit jedem Schritt, den er geht, wächst die Angst, seine Familie könnte nicht mehr da sein. Das Wort tot kann er nicht einmal denken. Ich bin nicht wichtig. Dies ist mein Land.
Er erreicht das Ruhrgebiet, in dem kein Stein mehr auf dem anderen zu liegen scheint. Er kommt nach Essen. Er lenkt die Schritte, die ihn immer mehr anstrengen, in die Richtung seiner Straße, seines Elternhauses. Es steht noch. Das Haus ist nicht zerstört. Sein Herz rast. Er klingelt, steigt die Stufen empor. Seine Schwester öffnet die Tür, sieht ihn wie
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