Der Tag ist hell, ich schreibe dir
mich besucht hat, seit die Leute mich nach dir gefragt haben, seit ich wieder und wieder angeschrieben angerufen angemailt werde, mit der Bitte, von dir zu erzählen, während deine Familie sich verschanzt, was ich inzwischen verstehen kann. Jetzt fühlt es sich so an, als wärst du ein weiteres Mal für mich ausgelöscht worden,
und durch meine Schulter zieht seit ein paar Tagen ein entsetzlich stechender Schmerz, ich kann kaum den Arm bewegen oder schreiben
und nachts höre ich den Chor der alten Männer, sie flüstern, singen, schreien: » Es gab keine I-de-ooo-lo- gieeee! Es gab keine Ideologie!«
16. März 2009
Lieber Julius,
ich glaube, ich habe jetzt verstanden, was es mit den schwarz-weißen großen Bildern von Gerhard Richter auf sich hat, die wie verschwommen wirken, wie versetzt, wie doppelt, wie doppelt belichtet, obwohl sie doch gemalt sind. So verhält es sich mit den Erinnerungen, dem Wissen, dem Erlebten. Und die Wahrheit? Die Wahrheit liegt in diesen Zonen. Ich muss dich erfinden, um dich wieder zu finden.
8 Rilke, 1945
Reiten, reiten, reiten, durch den Tag, durch die Nacht, durch den Tag.
Reiten, reiten, reiten.
Und der Mut ist so müde geworden und die Sehnsucht so groß. Es gibt keine Berge mehr, kaum einen Baum. Nichts wagt aufzustehen. Fremde Hütten hocken durstig an versumpften Brunnen. Nirgends ein Turm. Und immer das gleiche Bild. Man hat zwei Augen zu viel.
Rainer Maria Rilke
Die Weise von Liebe und Tod
des Cornets Christoph Rilke, 1912
Im Deutschunterricht lesen sie Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke von Rainer Maria Rilke, eigentümlicher Gesang auf einen Heldentod, verklärend, melancholisch, hintergründig. Man hat zwei Augen zu viel. Sie singen Lieder, in denen Mädchen von Soldaten Abschied nehmen. Die Jungen sollen sich an den Gedanken gewöhnen, ihr Leben als nicht zu hoch einzuschätzen, sie sollen im Zweifelsfall bereit sein, es fortzuwerfen.
Ein paar ältere Jungen, die in die Stadt geschickt wurden, um für Elly Ney Sachen aus ihrer Wohnung zu holen, berichten bei ihrer Rückkehr von zerstörten, qualmenden Straßenschluchten. Sie hätten ihre Stadt nicht wiedererkannt, sagen sie. Verbrannte Kinder, schwer verwundete Frauen, zerstörte Kirchen, zusammengebrochene Häuserwände.
Julius ist fünfzehn Jahre alt, im März 1945.
» Wir müssen die erotischen Impulse der vierzehn- und fünfzehnjährigen Jungen lenken«, sagt Goerlitz, » sonst kommen sie auf dumme Gedanken. Erschöpfung macht gleichgültig; sie sollen also nicht zu erschöpft sein, nur gerade so viel, dass keiner Ausbruchsgelüste bekommt und kneift. Noch kann ich die jüngeren Jungen hier halten, aber es kann jeden Tag der Befehl ergehen, und sie müssen in die Schlacht. Ihre Kampfbereitschaft muss geschürt werden.«
Goerlitz’ eigene Kampfbereitschaft ist ihm schon seit einiger Zeit abhandengekommen.
Die Jungen machen Einsatzübungen mit Gasmasken. Sie hören am Rundfunkgerät abends im Aufenthaltsraum die Wehrmachtberichte. Von » Frontverkürzungen« ist die Rede, das bedeutet Rückzug, Niederlage. Sie spielen jetzt nicht mehr Karten. Goerlitz spricht mit den Jungen darüber, dass er sie bald nach Hause schicken muss. » Wer nicht direkt nach Hause kann, muss einen Umweg nehmen«, sagt er.
Das gilt auch für Julius. Ins Ruhrgebiet kann man keinen schicken. Luis aus Tirol bietet Julius an, mit ihm zu kommen. » Wir können dann wenigstens noch ein bisschen zusammenbleiben«, sagt er.
Im März stellt Goerlitz den Jungen Passierscheine aus, laut derer sie zur » KLV 39« gehören, zur Kinderlandverschickung. » Der Pass schützt euch, sagt bloß nicht, dass ihr hier auf der Schule wart.« Die ersten Schüler, die aus noch unbesetzten Gebieten kommen, verlassen die Schule. Sie weinen, als sie von ihren Freunden Abschied nehmen. Sie haben keine Vorstellung davon, was sie erwartet. Sie haben das Gefühl, zu Unrecht vor die Tür gesetzt zu werden.
Die Schule wird aufgelöst. Die Jungen werden auf die umliegenden Lazarette verteilt. Unter dem Vorwand, sie würden als Werwölfe losgeschickt, um alte Burgen zu verteidigen, lässt Goerlitz im April Jungen von einem LKW nach Steinach am Brenner bringen. » Trennt euch dort, verteilt euch auf die Dörfer, schweigt, wenn ihr nicht reden müsst, und wartet ab, was passiert. Bittet Bauern um Unterschlupf und bietet eure Arbeit an.«
Auf der Flucht, in den Bergen, erfahren die Jungen, dass Hitler sich im Bunker erschossen hat. Es geht
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