Der Tag ist hell, ich schreibe dir
und schlief – sie war fast augenblicklich eingeschlafen, wie ein Kind, das sich, erschöpft von einer langen Reise, fallen lässt –, betrachtete er sie. Ihre Augen waren leicht verquollen, die Wimperntusche verschmiert, ihr Mund weich geöffnet. Er strich vorsichtig über ihr Profil; er wollte sie nicht wecken; nachdem sein Unmut verflogen war, genoss er es, sie zu betrachten, ihre Gegenwart aufzunehmen, nachzudenken. Sie war dreiundzwanzig Jahre alt. Sie hatte ein Recht auf ihr eigenes Leben, er konnte nicht erwarten, dass sie, sobald er anrief, alle Pläne änderte, Verabredungen über den Haufen warf, es wäre unzuverlässig gewesen und falsch. Und doch hätte er es sich gewünscht. Er hatte so wenig Zeit, und er hatte immer weniger Zeit für sie. Den ganzen Tag lang hatte er Verhandlungen führen müssen, hatte sich zwischendurch mit präziseren Informationen über mehrere Transaktionen versorgen müssen, hatte seine Assistenten in Frankfurt immer wieder anrufen müssen, da sie entscheidende Detailfragen nicht genügend bearbeitet hatten.
Er ließ die einzelnen Etappen der Gespräche Revue passieren, fragte sich, an welchen Stellen er taktische Fehler gemacht hatte oder geschickter hätte einlenken müssen, während Helen neben ihm im Schlaf immer wieder leicht aufseufzte oder sich unruhig regte. Er überlegte einen Augenblick, ob er wieder aufstehen und sich seine Akten vornehmen sollte, doch sobald er sich nur ein wenig rührte, bewegte sie sich ebenfalls. Sie streckte die Hand nach ihm aus. Er nahm sie, hielt sie, küsste sie. Sie spürte es im Schlaf. Er ließ seinen Blick über ihre Haut wandern, zu den freigelegten Schultern, bis er die Decke über sie zog, damit sie sich nicht verkühlte. Er fragte sich, wovon sie hinter den flackernden Lidern träumte, er sagte es ihr am nächsten Tag, er erzählte ihr, was er gedacht hatte, neben ihr, so wie er ihr hin und wieder Dinge mitteilte, die ungesagt geblieben waren, wenn sie sich sahen.
Er schaltete die Nachttischlampe aus. Das Licht des Kurfürstendamms fiel schwach durch die Gardinen herein. Er berührte wieder ihr Gesicht, ihre Schultern, ihren warmen Körper, der unter dem Laken pulsierte. Alles an ihr war rund und weich, obwohl sie schlank und schmal war. Sie hatte sich eingerollt wie eine Katze, ihre Knie hoch an den Brustkorb gezogen, doch ihre Hand hatte sie zu ihm ausgestreckt; sie schmiegte sich mit ihrer ganzen Innenfläche an seine Haut. Sie lag vor ihm wie ein Rätsel, hinter das er gar nicht kommen wollte. Zu selten gab es für ihn unlösbare Fragen. Wenn er lange genug nachdachte, fand er für alles eine Begründung, einen Gedanken, eine logische Erklärung. Hier lag ein Mädchen, das zu ihm kam, wann und wie es wollte, und das zu sehen ihn jedes Mal glücklich machte, auch wenn es seit ihrer letzten, winterlichen Begegnung einen leichten Anflug von Melancholie in ihm auslöste, den er zur Seite schob.
Er beugte sich zu ihrem Hals, studierte ihr kleines Ohr, die feine Ohrmuschel, das Ohrläppchen, in dem ein silberner Ohrring mit einem grünen Stein steckte. Ihr Geruch erinnerte ihn an etwas. Er ließ sich treiben, und Jahre später, als Helen sich diese Situation ins Gedächtnis rief, ließ sie ihn Gedanken nachhängen, die zu ihm gepasst hätten wie unausgesprochene und doch ganz eigene Empfindungen, in denen sie Dinge, die sie von ihm wusste, mit anderen, die sie über ihn herausgefunden und zusammengetragen hatte, ineinanderfließen ließ, über die er gelächelt hätte, wie manches Mal in ihren Gesprächen, wenn er aufgelacht hatte, bei irgendeinem Satz von ihr: Wieso kannst du eigentlich meine Gedanken lesen?
Er fragte sich, ob der andere ältere Mann, den sie heute gesehen hatte, mehr Freiheiten in seinem Leben hatte als er, und mehr Zeit, und ob er andererseits so viel Vergnügen an seinen Aufgaben hatte wie er selbst. Er grübelte der jungen Frau nach, die Kind und Mann verlassen hatte, um in den Osten zu gehen. Was für eine Idee! Verantwortungslos, blauäugig noch dazu. Er hatte durchaus Grenzen des Verstehens. Vielleicht hatte sie sich etwas vorgemacht. Vielleicht hatte sie geglaubt, es sei nur vorübergehend. Vorübergehend … nichts war vorübergehend. Alles, was man irgendwann einmal entschied und tat oder nicht tat, hatte Folgen. Plötzlich wusste er es. Der Geruch. Es war der Geruch seiner Großmutter, wenn sie abends aus ihrer Kneipe kam und sich zu ihm ins Bett legte. Wenn er manchmal bei ihr übernachtete, weil die
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