Der Tag ist hell, ich schreibe dir
seien, dass er sie nur am Rande berührt hatte, und Helen wurde bewusst, wie viele Mitglieder der Terrorszene aus ihrem braven Heimatort gekommen waren. Sie erzählte Steinbeck von ihrer marxistischen Bäckerei, und er, dass er im Golfclub als Caddie gejobbt hatte, und sie wunderten sich beide, dass es so dicht beieinander, nur um wenige Jahre versetzt, diese extrem verschiedenen Welten gegeben hatte. Helen erinnerte sich daran, dass nach Julius’ Tod Freunde ihrer Eltern, die wussten, dass Helen Julius kannte, ihre Mutter gefragt hatten, ob denn das Bundeskriminalamt nicht bei Helen gewesen wäre. Und einer der Reporter, der nach dem Artikel Keplers mit ihr gesprochen hatte, hatte mehrmals betont, wie seltsam er es finde, dass Julius Turnseck ausgerechnet mit ihr, einer linken Studentin, so engen Kontakt gehabt habe. Ob er keine Bedenken gehabt hätte, von ihr ausspioniert zu werden.
Lutz Steinbeck erläuterte Helen beim Nachtisch noch einmal genauer eine der Abkürzungen auf der Karteikarte, die auf eine Abteilung der Stasi verwies, die in Berlin-Lichtenberg ihren Sitz gehabt und im weitesten Sinn mit Wirtschaftsspionage zu tun gehabt hatte.
» Dazu gehörten außer der Sicherung der volkswirtschaftlichen Bereiche, dem Unterlaufen von Embargobestimmungen, der Führung von Informellen Mitarbeitern und der Erkundung ausländischer Wirtschaftsunternehmen auch die Erstellung von Personendossiers sowie der Schutz spionagegefährdeter Personen. Man müsste dieses Personendossier finden. Am besten wären natürlich die Abschriften der Tonbänder.«
Lieber nicht, dachte Helen, lieber nicht. Was für eine beklemmende Situation, von einem Geheimdienst überwacht zu werden. Was für eine Vorstellung, Julius und sie hätten abgehört werden können! Welches Geplänkel käme hier zutage, welches nächtliche Flüstern, welcher Unsinn am Morgen? Welche Kommentare zu politischen Vorgängen? Das alles begleitet von Helens Espressomaschine, deren sprudelndes Geräusch Julius so sehr gemocht hatte? Grauenhafter Gedanke, zugleich so absurd, dass sie fast lachen musste; stattdessen bekam sie Kopfschmerzen, ihr wurde schlecht. Die politische Dimension, in der Julius’ Leben sich abgespielt hatte, bekam etwas beängstigend Irreales. Die Bilder der Beerdigung flackerten in ihr auf; sie schob sie weg; in diesem Moment hatte sie das Gefühl, von einer seelischen Taubheit befallen zu werden; sie musste aufstehen, hinausrennen, ans Licht, an die Luft. Sie sah auf die Uhr.
» Ich muss los«, sagte sie, » die Kinder kommen aus der Schule.«
Lutz Steinbeck erhob sich und legte die Stoffserviette auf den Tisch, er machte dem Ober ein Zeichen und begleitete sie im Aufzug bis zum Ausgang des Gebäudes.
» Wir hören voneinander, wenn es etwas Neues gibt, nicht wahr?«
Helen lief zur U-Bahn, den dicker Ordner unter dem Arm. Es war ein sonniger, windiger Herbsttag, doch sie fror, und in ihrem Kopf hämmerte es. Ohne das Telefon hätte ihre Verbindung mit Julius niemals so lange gehalten; das Telefon, diese grandiose Erfindung Thomas Alva Edisons, der auch Brahms aufgenommen hatte, mit seinem Phonografen. Alles war über die Worte zwischen ihnen hin- und hergeflossen, das Miteinandersprechen war ihre Form der Liebe, die Stimme des anderen zu hören ihr Glück. Wie entsetzlich war die Vorstellung, ein Fremder hätte ihnen zugehört. Wie entsetzlich, das Abgehörte würde jetzt von Fremden gelesen. Und noch entsetzlicher: womöglich in irgendeiner wüsten Auswahl veröffentlicht. Helen spürte das riesige Gebäude der Zeitung, das sie gerade verlassen hatte, wie eine Bedrohung, immerhin hatte sie soeben mit einem Journalisten gesprochen und nicht mit irgendwem. Sie rannte schneller die Straße entlang; sie lief an der U-Bahn-Station vorbei zur nächsten. Wie so oft, wenn heftige Gefühle über sie hereinbrachen, ratterten durch ihren Kopf abstrakte Sätze. Eine überdokumentierte Welt, dachte sie, zerstört das Auswahlverfahren des Gedächtnisses. Das einzigartige Umformulieren und Neudeuten der Erinnerung, die irgendwann in eine Erfindung übergeht. Was wurde aus dem notwendigen Verblassen? Was geschah mit dem Vergessen? Was mit den Lücken, die sich nicht selten als sinnvoll, als hilfreich erwiesen? Was wurde aus dem Erlebten, wenn es nicht in eine Erfahrung verwandelt wurde? Wem gehörten diese Dinge? Wenn sie es war, die erzählte, konnte sie an einer Erfahrung festhalten, sie konnte auswählen, Geheimnisse wahren, sie musste nicht alles
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