Der Tag ist hell, ich schreibe dir
oben. Helen nahm die Kanne von der Flamme und setzte den Milchtopf darauf. Helen dachte an Julius in der riesigen, hellen Suite. Wie er alle Sachen parat gelegt hatte, und wie ihre eigenen Dinge innerhalb kürzester Zeit Risse bekamen, Knautschspuren. Sie wartete darauf, dass die Milch heiß wurde, und betrachtete ihr graues Metallregal, ihren Küchentisch, der aus einer Platte auf zwei Holzböcken bestand, die Klappstühle und die selbst gezimmerte weiße Bank, die sie im Keller gefunden hatte. Sie stellte sich vor, dass Julius auf dieser Bank sitzen und ihr beim Kaffeekochen zusehen würde, so wie sie auf dem Klodeckel in seinem Hotelbad gehockt hatte. Sie sah aus dem Fenster in den Hof. Wer bist du, wenn du nicht bei mir bist?, schoss es ihr durch den Kopf. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich es nicht aushalten würde, im zugeknöpften Anzug, zwischen Akten, mit einem Pokerface beim Verhandeln, mit dieser permanenten Bereitschaft, den Markt zu analysieren und neue Strategien zu entwickeln. Wenn du in diesem Spiel bist, gibt es kein Draußen, sagte Balthasar Gracián, aber auch andere Moralisten, die über die ewig gleichen Spiele des Lebens nachdachten. Trotzdem gab es da einen Überschuss an Julius, dem sie dieses Draußen gern glauben wollte. Aber sie hatte wenig Vergleichsmöglichkeiten. Helen sah das Matisse-Plakat an, das sie an die Wand gepinnt hatte, und lächelte. Sie hatte sich ganz neu für das Fach Vergleichende Literaturwissenschaften eingeschrieben und die Politikwissenschaften aufgegeben. Sie hatte zwei Tests schreiben müssen, in Englisch und Französisch, und war angenommen worden. Jetzt musste sie die nötigen Grundkurse nachholen. Sie warf einen Blick auf die bekritzelten Zettel an der Küchentür, auf denen stand, woran sie zu denken hatte: die bestellten Bücher aus der Bibliothek holen, die Arbeit über das Guernica-Gedicht von Paul Éluard anfangen und das Referat über Peter Handkes Buch Die Lehre der Sainte-Victoire, das vom Mont Ventoux in der Provence handelte, den Cézanne immer wieder gemalt hatte. Die Seminare fingen erst an, und Helen war noch immer überrascht von der Freien Universität, die in einem silberglänzenden und einem rostig braunen Flachgebäude untergebracht war, zwischen Parkanlagen, und deren ganze Atmosphäre jung und antiautoritär war, das Gegenteil von Münchens heiligen Marmorhallen. Helen schien ihre Münchner Zeit schon nach einer Woche so weit entfernt, als wäre sie seit drei Jahren fort von dort. Sie liebte alles vom ersten Augenblick an, und eine tiefe Anspannung fiel von ihr ab. Immer wieder fuhr sie mit dem Bus, U- oder S-Bahn kreuz und quer durch die Stadt. Sie legte Kilometer zu Fuß und mit ihrem alten Fahrrad zurück, um alles zu sehen. Sie konnte nicht genug bekommen, von den alten Häusern mit den Einschusslöchern, den ungeraden Straßen, der disparaten Architektur. Sie lernte jeden Tag Leute kennen und traf sie abends in Kneipen, die so billig waren, dass sie dort sogar essen konnten und ohne Ende sitzen und reden.
Auch wenn sie an diesem Morgen einen Augenblick lang traurig war, hatte sie es im nächsten schon wieder vergessen. Sie kippte die heiße Milch in den Kaffee, setzte sich an den Küchentisch und tunkte das knusprige Croissant ein, vor sich ein aufgeschlagenes Buch.
2 Karteikarten 2009
» Wissen Sie, ob er damals nach Berlin geflogen kam oder mit dem Wagen?«
Helen saß bei Lutz Steinbeck, dem Redakteur, der für sämtliche Stasifragen beim GLOBUS zuständig war, ein Kollege von Jonathan Kepler. Er war groß und schlaksig und beugte sich beim Sprechen immer ein wenig zu ihr vor. Sein Büro war eine durch eine Glasscheibe von den anderen Redakteuren abgeschirmte Wabe. An zwei Wänden standen vollgestopfte Regale mit Büchern und Papieren, nach draußen hatte man einen weiten Blick über Kreuzberg und Mitte.
Es war im Herbst 2009, und Julius’ zwanzigster Todestag stand bevor. Kepler hatte Helen zwei- oder dreimal angerufen, ob es denn schon zu einem Drehbuch gekommen wäre, ob denn bald ein Film herauskäme, und Helen hatte jedes Mal nein, nein gesagt, das wird wohl nichts. Beim ersten Anruf hatte sie ihm von dem Filmproduzenten erzählt, der ihr mit Dollarzeichen in den Augen versprochen hatte, er würde sie reich machen, wenn sie ihm ihre Geschichte schenken würde, und dass sie in der Nacht vor ihrem Treffen mit ihm von dessen russischer Geliebten geträumt hatte, was sie ihm sagte, und wie er angefangen habe zu stottern,
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