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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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Verwandten, die Sie besucht haben, oder engen Freunden, auch denen in West-Berlin. Mit sämtlichen Geburtsdaten. Ich stelle dann den Antrag.«
    Helen wurde schwindelig. Die Daten aller ihrer Freunde und Verwandten? Von ihrem Onkel, der sich wenige Jahre nach der Wende eine Kugel durch den Kopf gejagt hatte? Von ihren Großeltern? Ihrer Cousine, mit der sie einen waghalsigen Ausflug zur Tante unternommen hatte, ohne Visum fürs Umland? Die sie in die Humboldt-Uni eingeschleust hatte, mit dem Ausweis einer Freundin? Und von ihren engsten Freunden? Sie war unsicher, ob sie sich darauf einlassen sollte. Sie war schon mitten drin. Es war wie ein Sog; Neugier erfasste sie, eine vage und absurde Hoffnung, herausfinden zu können, wer hinter dem Anschlag auf Julius gesteckt hatte. Angst schnellte hoch, sie krallte sich an den Armlehnen des Stuhls fest, sie fragte sich, was dies alles für sie selbst bedeuten würde, und plötzlich meldete sich der Schmerz in ihrer Schulter wieder und zog seitlich am Hals zu ihrem rechten Ohr hoch. Sie lehnte sich zurück und atmete schwer aus.
    » Soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen oder einen Kaffee? Sie sind ganz blass«, sagte Lutz Steinbeck. Sie nickte. Während er unterwegs war, flogen ihr Bilder von Herrn Lippens durch den Kopf. Er hatte sie einige Male nach Hause gefahren, nachdem sie Julius zum Flughafen gebracht hatten. Einmal hatte Helen vorn neben ihm gesessen, und er hatte ihr das klobige, schwarz glänzende Funktelefon erklärt, das zwischen den beiden Vordersitzen angebracht war. Damals gab es nur wenige Netze für Funktelefone, die Verbindung war extrem teuer, nur wenige erhielten überhaupt einen Zugang und die Erlaubnis, eines zu nutzen. Helen sah Herrn Lippens’ gutmütig freundliches Gesicht vor sich, wie er sie manchmal verabschiedet hatte, mit seiner knappen Verbeugung, niemals aufgesetzt, immer formvollendet. Wie er einmal aus seiner Hosentasche Geld geholt hatte, um es ihr in die Hand zu drücken, » vom Chef, bitte, nehmen Sie es.« Ihr wurde mulmig bei der Vorstellung, er könne auf der Transitstrecke angehalten haben, mit den Unterlagen des Chefs im Wagen. Julius war sicherlich das eine oder andere Mal mit ihm durch die DDR gefahren, seine Papiere dabei lesend, doch meistens war er geflogen.
    Zwei Wochen später saß Helen noch einmal bei Lutz Steinbeck. Es ging tatsächlich schneller für ihn als Journalisten, Informationen bei der Birthler-Behörde zu bekommen. Er hielt einen dicken Ordner mit Fotokopien für sie bereit, in denen die Stasi hauptsächlich westdeutsche Pressemeldungen und Artikel über Julius Turnseck, die Deutsche Aufbau und andere westdeutsche Banken zusammengetragen hatte, dazwischen handschriftliche oder auf Schreibmaschine getippte Meldungen, in denen ein Mitarbeiter Zeitungsberichte und Fernsehnachrichten in den Westmedien zusammengefasst hatte. Der wichtigste Fund aber war die Fotokopie einer Karteikarte. Auf der linken Seite stand maschinengetippt Julius’ Name, mit seinem Geburtsdatum, dem Geburtsort und dem ehemaligen Sitz seiner Bank, der nicht korrekt genannt war. Daneben, rechts ein Stempel, ein Datum, der 15. 12. 1983, und von Hand der Vermerk: Kontakt zur OPK » Händler«.
    » Operative Personen-Kontrolle«, sagte Steinbeck, » mit anderen Worten: der Spion. Oder die Abteilung.«
    Auf einer weiteren Karte waren Name und Sitz der Bank korrigiert. Darunter handschriftlich der Tag seiner Ermordung mit dem Vermerk: Opfer eines Terroranschlags. Auf der rechten Seite der Karte wieder der Stempel, Siglen, Abkürzungen der Stasi, die Lutz Steinbeck Helen erklärte, Buchstaben und römische Ziffern, die auf Dienstabteilungen und Mitarbeiter verwiesen, dann, von Hand, einzelne Buchstaben und Daten, an denen offenbar ein » Vorgang« stattgefunden hatte, Termine zwischen 1985 und 1989.
    » Sehen Sie mal zu Hause nach«, sagte Lutz Steinbeck, » ob Ihnen zu diesen Terminen irgendetwas einfällt.«
    Als sie anschließend im eleganten Restaurant der Zeitung im zwanzigsten Stockwerk, das ringsum riesige Fenster hatte und einen Ausblick über die ganze Stadt bot, noch eine Kleinigkeit zusammen aßen, stellte sich heraus, dass Lutz Steinbeck ebenfalls in Bad Wildbad geboren war, wie Helen, nur einige Jahre früher. »Ist ja ein Ding«, sagte sie. Er hatte auch ein anderes Gymnasium besucht als sie. Er erzählte Helen, dass er nur ganz knapp die Kreise linksextrem engagierter Leute und Gruppen » verpasst« hatte, die in Bad Wildbad zugange gewesen

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