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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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Attitüden der Macht und Machterhaltung, der Konkurrenz, die blind macht, überhaupt den ganzen eingeschränkten Blick, der ihr so fern vom praktischen, » normalen« Leben scheint. Ich finde es umso bemerkenswerter, als sie niemals selbst Kinder hatte. Aber sie hat ein so zärtliches Wissen, ich glaube, weil sie sich an ihre Kindheit erinnert und die außerordentliche Intensität der Wahrnehmung, die sie in diesem Alter hatte. Und davon erzählt sie in Die Wellen , und sie lässt sechs ganz verschiedene Personen davon sprechen, was sie sehen, riechen, fühlen, und sie verfolgt sie bis in ihr mittleres Erwachsenenalter. Wie sich ihre Wahrnehmung ausbildet und verändert.
    Es ist auch ein sehr trauriges Buch, weil im Grunde alle sechs Figuren trotz ihrer Sehnsucht nach Nähe immer irgendwie allein mit sich bleiben. Die Grashalme sind ihnen näher als die, die sie lieben. Zu viele Missverständnisse herrschen zwischen ihnen, zu viele » vergeblich« und » fast«. Aber das Faszinierende ist: dass ich so eine große Nähe zu ihnen empfinden darf! Als ob Virginia Woolf hier, zwischen sich als Autorin oder Erzählerin und mir als Leserin, eine Nähe herbeizaubert, die ihren Figuren untereinander nicht vergönnt ist. Mich macht sie glücklich, mit dem Rhythmus der Sprache, dem Klang der Vokale und Konsonanten, die wie Musik klingen, und in den vielen kleinen wunderbaren Entdeckungen ihrer Genauigkeit. Vielleicht ist es auch dieses kindliche Universum, die Nähe zu allem, was Natur ist –
    ich muss jetzt weiterlesen, Julius, sei umarmt, ruf mich an, dein Lilchen!
    PS : Weißt du, was mir gerade auffällt? Wir kennen uns jetzt fast auf den Tag genau fünf Jahre!
    9 Zeit
    Im Herbst 2010, als Helen die Akten in der Birthler-Behörde einsah, war die Weltwirtschaftskrise in vollem Gang. Banker verloren ihr Ansehen und ihren Sex-Appeal, die ersten Manager begingen Selbstmord. Alles stand kopf. Der Kapitalismus wurde infrage gestellt, und zahlreiche Zeitungen gruben den alten Marx wieder aus und brachten ganze Magazine über ihn heraus. Julius’ Name tauchte auf; als Bankier mit ethischen Grundsätzen, als Ideal geradezu, wurde er skrupellosen Boni-Jägern entgegengehalten, die das System in den Ruin getrieben hatten und doch von vielen bewundert worden waren. Heinrich Baumann trat in Talkshows auf, er wurde zur Rettung einer Bank eingesetzt, die dennoch unterging. Heinrich Baumann sagte, nach der Glaubwürdigkeit von Banken gefragt: » Die Kunden wollen Zertifikate; die Kunden bekommen, was sie wollen. Wir verkaufen, was Käufer findet. Das ist der Kapitalismus. Wer etwas dagegen hat, muss die Gesetze ändern.«
    Ein ständiger, bösartiger Wind pfiff Helen jeden Tag entgegen, wenn sie vom Alexanderplatz aus die Karl-Liebknecht-Straße hinauflief. Sie saß im nüchternen Lesesaal, mit einigen anderen zusammen, und manchmal hob sie den Kopf und sah aus dem Fenster in den grauen Himmel und erinnerte sich daran, wie Julius ihr von Moskau erzählt hatte, gleich bei ihrem ersten Treffen in Frankfurt damals, von dem russischen Cellisten, und später, von seinen weiteren Besuchen, vom Geruch des Hotels, nach Putzmitteln, schweren Düften, undefinierbar, in dem er gewohnt hatte, mit dem fantastischen Blick auf den Roten Platz.
    » Handel bringt Wandel«, hatte Julius oft gesagt, » aber es wird lange dauern.« Das Hotel Metropol teilte 2010 auf seiner Website mit, es sei zwischen 1985 und 1989 wegen Renovierung geschlossen gewesen. Keine Bankfilialen, keine vermieteten Zimmer. Keine Geschichte. Korrektur durch Auslassung.
    Helen erinnerte sich, wie eingehend Julius sich nach ihren Besuchen auf der anderen Seite der Grenze erkundigt hatte, auch nach dem Geburtstag der Großmutter. In Strausberg, so fand sie jetzt heraus, wo sie in jener Winternacht Anfang 1987 nach dem Geburtstag der Großmutter in die S-Bahn gestiegen war, war Ende der Sechzigerjahre die Hauptnachrichtenzentrale des Ministeriums für Nationale Verteidigung eingerichtet worden, das 1990 im Zuge der Vereinigung aufgelöst wurde. Ein Video auf Youtube von 2009 gab Einblick in den Nachrichtenbunker » Wostok« in Strausberg, es hieß darin: » Kein elektromagnetisches Signal dringt nach außen. Für den Fall einer Verseuchung von außerhalb wird der Bunker über ein Schleusensystem erreicht.« Rituale des Betretens, Rituale im Inneren, wie ein Allerheiligstes: Systeme der Macht, ubiquitär.
    Helen stellte einen neuen Antrag: auf Klärung der Identität von IM Nora.
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