Der Tag ist hell, ich schreibe dir
3.1987
Lieber Julius,
während wir an der Uni lauter Texte von Philosophen lesen, die vom Ende der Geschichte sprechen, nimmt die reale Geschichte einen bemerkenswerten Lauf. Ich habe heute in der einschlägigen Literaturzeitschrift der DDR , Sinn und Form , einen längeren Artikel gelesen, in dem Virginia Woolf rehabilitiert wird. Plötzlich gilt sie nicht mehr als dekadente bürgerliche Autorin, die sich zu viel mit ihrer Subjektivität befasst, als die man sie in den letzten dreißig Jahren betrachtet hat, sondern als eine Schriftstellerin, die sich erstens kritisch mit der Welt der Arbeit und zweitens mit dem Patriarchat auseinandersetzt!!! Julius, das ist das Ende der DDR !
Es umarmt dich deine Helen.
V.
Die andere Seite
Vielleicht lebt unser Freund – man vergesse die Freundschaft nicht, wenn man allgemein von der Liebe spricht – weit von uns, und wir wissen nichts von ihm. Dennoch sind wir bei ihm, in einem symbolischen Zusammensein; unsere Seele scheint sich wunderbar auszudehnen, Entfernungen zu überspannen, und wir fühlen uns, sei er wo immer, in einer wesenhaften Einheit mit ihm.
Ortega y Gasset, Von der Liebe
1 Washington 1987
Die Journalisten hatten sich in den Flieger gedrängelt, um mit der Regierungspressegruppe zur Tagung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank nach Washington mitzufliegen. Jonathan Kepler war nicht mit dieser Maschine gekommen. Jonathan Kepler, ein sportlicher Mann Mitte dreißig, arbeitete für den tag, und von dieser jungen, basisdemokratisch geführten linken Tageszeitung wollte man niemanden im Flugzeug der Regierung dabeihaben. Die Mitarbeiter, so spotteten die Kollegen der seriösen Presse, lebten von Nebenjobs wie Taxifahren, Babysitten und Blumenverkaufen. Für Spesen gab es kein Geld, Jonathan Kepler war auf eigene Faust geflogen, nach New York, und dann mit dem Zug nach Washington gefahren. Er war zum ersten Mal in den Vereinigten Staaten und von allem begeistert, den Wolkenkratzern, der Leichtigkeit und der Geschwindigkeit des Lebens in New York, und jetzt von den breiten Straßen und Plätzen der Hauptstadt, Washington. Er übernachtete beim Korrespondenten des tag auf einer Luftmatratze, im Norden der Stadt, nahe der U Street, einem überwiegend von Schwarzen bewohnten Viertel mit lebhaftem Nachtleben.
Stickige Schwüle schlug ihm entgegen, als er sich auf den Weg in die Innenstadt machte, um dort seinen Freund Carsten Willms zu treffen. Carsten Willms, eigentlich Lehrer, hatte, weil er Maoist war, Berufsverbot erhalten. Seit einigen Jahren arbeitete er als Redakteur des Evangelischen Pressedienstes, einer politisch wichtigen Institution, die man zwar wegen ihrer kritischen Haltung bei der Weltbanktagung nicht gerade willkommen hieß, wegen der Bedeutung der Kirchen im Zusammenhang mit der Entwicklungshilfe jedoch nicht außen vor lassen konnte. Die Dritte Welt war Carsten Willms’ Spezialgebiet; er bereiste regelmäßig Afrika und Lateinamerika, und er gab Jonathan Kepler oft Tipps.
Jonathan Kepler hatte Volkswirtschaft studiert. Dann hatte er als Referent und Redenschreiber gearbeitet, bei den Grünen, die sich gerade neu gegründet hatten. Er hatte bis zum Umfallen über Umweltschutz, Atomausstieg und Friedensstrategien diskutiert, über Stricken im Parlament oder nicht, Babys stillen im Parlament oder nicht und die Frage, ob man das Gewaltmonopol des Staates anerkennen sollte oder nicht. Er fand, dass ja, und bekam Ärger. Er beschloss, sich zu verändern, zog nach Berlin und fing beim tag an, der erst vor ein paar Jahren gegründet worden war.
Sein Schwerpunkt war von Anfang an Entwicklungspolitik, er kannte sich aus mit internationalen Krediten und Finanzen. Zusammen mit einer Kollegin, die mehrmals die Woche riesige Blumensträuße von einem Gewerkschaftsboss erhielt, hatte Jonathan Kepler auf den Mechanismus hingewiesen, der vielen Ländern zum Verhängnis zu werden drohte: die Debt-Equity-Swaps. Der Vorgang, bei dem eine Bank Schulden eines Landes übernahm und dafür an Besitztümern des Landes wie Rohstoffen oder Grund und Boden beteiligt wurde. Jonathan Kepler hatte nicht nur den Charakter der Ausbeutung darin analysiert, sondern auch die verheerenden Folgen für den Finanzmarkt erkannt, und etablierte Zeitungen hatten erstmals auf einen Beitrag des tag reagiert.
» Ganz schön drückend heute«, sagte Jonathan Kepler und wedelte mit seinem Jackett.
» Es gab einen Hurrikan, vor zwei Tagen, deshalb der heiße Wind«, erklärte
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