Der Tag ist hell, ich schreibe dir
Gebiet der Bundesrepublik, die im Fall der Krise in die Luft zu jagen wären, genauso wie den Hinweis auf eine solche mit führenden Persönlichkeiten, mit deren Liquidation man die Funktion lebenswichtiger Bereiche unmöglich zu machen hoffte; die Listen selbst fand Helen allerdings nicht. Dafür fand sie eine Liste mit Beschaffungsmaßnahmen, die für gezielte Aktionen gegen führende Persönlichkeiten im Westen notwendig waren, sogenannte » operativ-technische Einsatz- und Kampfmittel« sowie » Ausbildungsmittel«, als da wären: » Batteriezündgeräte für den universellen Einsatz, Dachgepäckträger für den Transport von Leitern, Funkfernschaltgerätesystem, Universalempfänger für den Kfz-Einbau (potential-freier Kontakt), Empfänger mit Zünderausgang und Potenzialfrequenz, Kontaktmittel, Kombinationsempfänger mit Zweizünderausgang und potenzialfreiem Umschaltkontakt, Erschütterungs- und Helligkeitssensor, Containertor-Sender, Diplomatenkoffer, Container, Sender/ Universelle Variante sowie Handsender.«
Helen las, was ihr Lutz Steinbeck bereits erklärt hatte: » Dank neu entwickelter Technologien wurde es Mitte der Achtzigerjahre möglich, Funktelefone, wie sie im Westen in einigen wenigen Personenkraftwagen benutzt wurden, abzuhören.«
Mata Hari errang einen Teilerfolg, Helen wurde fündig: Auch die Deutsche Aufbau wurde observiert. Da stand es. Schwarz auf Weiß, die » operative Bearbeitung einiger Vertreter westdeutscher Banken«. Es gab eine Akte mit Informationen über ihre Vorstandssprecher Julius Turnseck und Ernst Lowitz, zwei weitere, deren Namen Helen nicht kannte, es gab Informationen über Transaktionen der Bank, ihre Teilhabe an großen Konzernen, in deren Aufsichtsräten sie saßen. Artikel über Julius Turnseck in der westlichen Presse wurden gesammelt, da er sich weitaus häufiger zu Wort meldete und Pressekonferenzen gab als seine öffentlichkeitsscheuen Kollegen. Etliche Artikel über das Attentat folgten, ebenso die Suchanzeigen für Terroristen, die unmittelbar danach polizeilich gesucht wurden, sowie Seiten mit eigenen Auskünften über Terroristen, ihre Decknamen, ihre Aufenthaltsorte im Osten. Einmal, eine handschriftliche Notiz, gezeichnet Nora.
Im Jahr 1985 waren achtzig westliche Banken in Leipzig zur Messe gekommen. Es gab Notizen zu Gesprächen mit dem Chef der Bundesbank. Thiel, der Helen nun schon wie ein alter Bekannter vorkam, freute sich, dass die Bundesregierung sehe, dass die DDR ihre » Kreditwürdigkeit eindrucksvoll unter Beweis« gestellt habe. Thiel schrieb, auch der Industrielle Herrmann von Oberrath teile die Auffassung der Kreditwürdigkeit der DDR ; Oberrath kannte Helen ebenfalls, er war jener Freund Julius’, der Helen bei Julius’ Beerdigung vorgeschlagen hatte, ihre Briefe künftig an ihn zu schreiben. Herrmann von Oberrath war auch einer der heimlichen Außenminister. Er hatte den Abschluss über ein millionenschweres Geschäft über Pipelineröhren gegen Erdöllieferungen mit der Sowjetunion mitverhandelt. Oberrath und Julius hatten zu einem internationalen Gremium aus Wirtschaftsleuten, ausgewählten Journalisten und Politikern der westlichen Hemisphäre gehört, die sich informell und unter Ausschluss der Öffentlichkeit jährlich einmal an der Nordseeküste trafen.
Jedes Mal, wenn Helen auf einen schwarzen Balken stieß, der Namen, Zeilen und Absätze unleserlich machte – aus Gründen des Personenschutzes –, ärgerte sie sich. Sie ärgerte sich noch mehr, dass es außer diesen Zeitungsartikeln, die sie zum Teil schon kannte, keine persönlichen Notizen über Julius gab. Hatte es sie nie gegeben? Waren sie geschreddert worden? Lagen sie, noch unerschlossen, im Archiv? Hatte man sie ihr unterschlagen? Helen wurde wütend. Sie presste ihre Kiefer zusammen. Sie blätterte weiter. Diese Dinge waren in ihrer Realität irre. Sie wollte überhaupt nichts damit zu tun haben. Sie wollte nach Hause gehen, ins Kino oder ins Museum. Doch sie konnte nicht aufhören damit. Was suchte sie überhaupt? Eine abgründige Verbindung zwischen Mitgliedern der Bank und einem Geheimdienst, ob Ost oder West? Sie nahm jede winzige Spur auf, verfolgte sie. Wer hatte den großen Kreditvertrag der Deutschen Aufbau mit der SED -Führung unterschrieben? Sie fand es durch mühsames Kreuz- und Querkombinieren heraus; auch diesen Namen kannte Helen: Heinrich Baumann. Ein Mann, der sich aus ländlichen Verhältnissen hochgearbeitet hatte, mit einer entsprechenden Härte,
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