Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
Vom Netzwerk:
hatten. In Wirklichkeit war die Spur einer westlichen Terroristin dorthin entdeckt worden.«
    Helen fröstelte. In ihrer Stirn fing es an zu pochen, und ihr Nacken verspannte sich. Sie dachte an eine befreundete Schriftstellerin, deren Vater tatsächlich als Agent für die Stasi im Westen tätig gewesen war. Er hatte für einen Tag im Westen jeweils eintausend Westmark erhalten. Sie hatte es Helen erzählt. » Viele Geheimdienstler der DDR «, hatte sie gesagt, » wurden von anderen Geheimdiensten übernommen.«
    » Wenn Sie wollen, können wir das Gespräch in der Redaktion fortsetzen, ich könnte Ihnen dort einige Unterlagen zeigen.«
    Helen wollte nicht, doch sie nickte mechanisch. Sie verließen das Lokal und liefen an der Spree entlang.
    » Ich kann mir das alles nicht vorstellen«, sagte sie, » es klingt für mich so irreal.«
    » Es ist aber alles real«, sagte Paul Scott. » Diese Welt der Geheimagenten gibt es, sie verläuft parallel zu der unseren.«
    2
    » Ich will zu dir kommen«, sagte Julius, » in deine Wohnung.«
    Helen war seit einem dreiviertel Jahr mit Simon befreundet. Simon war Fotograf, und in jenen Monaten lernte sie mit ihm und von ihm zu sehen. Sie zog mit ihm kreuz und quer durch die Stadt, sie begleitete ihn bei seinen Aufträgen und besuchte Theateraufführungen mit ihm; er erklärte ihr das Handwerk, und sie erlernte es gern. Das Mehl, der höfische Puder, die leeren Blätter, auf die sie ihre Briefe schrieb, und jetzt das glänzend weiße Fotopapier, das sich in der Dunkelkammer füllte, auf dem Schatten auftauchten, sich verdichteten, sich schließlich die Bilder zeigten, die sie mit der Kamera festgehalten hatte – sie verfolgte es mit Spannung, fragte, was sie besser machen könnte, was sie beachten müsse. Sie fotografierte den ganzen Sommer über, Alltagsszenen, oft Kinder, alte Häuser, auf den Straßen, im Theater. Begeistert erzählte sie Julius von ihrer neuen Arbeit und schickte ihm ihr erstes gedrucktes Foto im tag: eine Gruppe junger Mädchen in der U-Bahn. Sie schickte ihm Abzüge von Fotografien, die sie für ihn vergrößert hatte, Schwarz-Weiß, von Kindern am Wasser oder in einem Hinterhof, von bröckelnden Häuserfassaden im Osten der Stadt, mit Schriftzügen der Geschäfte, die vor dem Krieg angebracht worden waren, von Menschen, die irgendwo Schlange standen.
    Die Unruhe im Osten wurde offensichtlich. Tausende fuhren nach Ungarn in diesem Sommer, um weiter in den Westen zu gelangen, und schon bald, im August, würden Hunderte in der Botschaft der Bundesrepublik in Budapest sitzen und auf ihre Ausreise warten. Der Sommer 1989 war sehr heiß und schien sehr lang. Auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking schlug die Regierung eine Demonstration für mehr Freiheit brutal nieder.
    Julius passte Helen am Telefon ab, wenn sie in ihrer Wohnung war; ihre Gespräche wurden kürzer; er war immerzu zwischen Terminen und Flügen eingekeilt, doch auch sie war oft unterwegs oder bei Simon. Hätte Helen ihn erst in dieser Zeit kennengelernt, hätten sie gar keine Zeit zum Kennenlernen gehabt. Helen musste ihm erzählen, was sie am Tag alles erlebt hatte, was sie dachte, was sie von den politischen Ereignissen mitbekam. Manchmal schämte sie sich, nicht so auf dem Laufenden zu sein, wie er es erwartete; sie war jetzt immer häufiger im Theater und im Kino, die Fotografie nahm sie gefangen, wenn sie nicht stundenlang las und ihre Hausarbeiten für die Uni schrieb. Die Wärme, die zwischen ihnen hin und her floss, blieb jedoch immer die gleiche. Oft klang seine Stimme traurig, wenn er sagte: » Bitte, erzähl mir, was du heute gemacht hast.«
    » Ich will zu dir kommen«, sagte er, » in deine Wohnung.«
    Julius kam im Wagen; er war nach Berlin geflogen, während Herr Lippens die Limousine nach Berlin gebracht hatte, mit verschiedenen Unterlagen. Später fragte Helen sich, ob Herr Lippens tatsächlich Transit gefahren war oder in Berlin einen anderen Wagen zur Verfügung gestellt bekommen hatte. Sie war immer davon ausgegangen, dass es nur einen Wagen gab, seinen Wagen.
    Helen rannte in ihrer Wohnung hin und her und ballte die Hände zu Fäusten, sie lungerte immer wieder am Fenster herum, weil sie ihn von dort sehen konnte, sobald er den Hof betrat. Statt den Vorhang wieder zurück auf die Stange zu hängen, den sie vor Aufregung heruntergerissen hatte, reckte sie den Hals hinaus. Der kleine Garten, den sich eine der Nachbarinnen angelegt hatte, bildete eine grüne Ecke im

Weitere Kostenlose Bücher