Der Tag ist hell, ich schreibe dir
Deutschland ins Hintertreffen gerät, international, auch in der Raumfahrt, die mit medizinischen Erkenntnissen eng verbunden ist –«
» Ja, wenn, wenn, wenn«, sagte Heinrich Baumann, in der Stimme immer schärfer werdend, » Sie reden ja, als lebten wir auf einer Insel der Glückseligen! Warum sollten die Leute diesen Unsinn glauben?«
Er starrte Julius feindselig an. Julius sah einen Mann, der die Beherrschung über sich verlor.
» Ich sage Ihnen, warum die Leute das annehmen sollten. Weil wir es selber so denken«, sagte er langsam. » Ich glaube nicht an Wunder. Ich gehe auch nicht davon aus, dass die Leute uns lieben. Es ist völlig richtig, dass sie unser Engagement in bestimmten Industriezweigen immer kritisch betrachten werden. Und ich sage Ihnen noch etwas: Ich finde das richtig. Die Leute müssen das tun. Ich meinerseits werde alles dafür tun, dieses Unternehmen nach meinem besten Wissen und Gewissen zu leiten.«
» Ich, ich, ich!«, schrie Heinrich Baumann und sprang von seinem Stuhl auf. » Selbst wenn Sie wir sagen, meinen Sie doch ich!«
Er schlug mit der Hand auf den Tisch und verließ den Raum. Die anderen Herren sahen sich an und nickten.
» Ich werde mit ihm sprechen«, sagte Ernst Lowitz.
8
Helen erinnerte sich daran, wie müde Julius hin und wieder geklungen hatte.
» Was ist passiert?«, fragte sie.
» Ach weißt du, manchmal sind die Leute so schwerfällig. Es deprimiert mich.«
» Worum ging es denn? Willst du es mir nicht erzählen?«
» Erzähl mir etwas von dir«, sagte Julius. » Bitte, frag nicht.«
Und sie erzählte ihm. Von ihren neuen Seminaren, über Rhetorik und Architektur, von ihrem Referat über dadaistische Poesie, von den Straßen, durch die sie streunte, von einem Besuch im Berliner Ensemble.
» Ich muss auflegen«, sagte er. » Schreib mir.«
Sie schrieb ihm. Nichts änderte sich daran, egal mit welchen jungen Männern Helen schlief oder nicht schlief, in welche sie sich verliebte oder nicht. Sie erzählte ihm, während er Akten sichtete, in der schwarzen Limousine, vielleicht nicht mehr ganz so oft, zwischen zwei Terminen, zwischen zwei Städten, Frankfurt am Main und Düsseldorf oder München. Sie trafen sich, wenn Julius zu einem Vortrag oder Verhandlungen nach Berlin kam, im Hotel. Selten in ihrer Wohnung.
» Das ist also der neue Teppich?«
Sie saßen an Helens blauem Gartentisch. Julius nahm den letzten Bissen seines Stückchens Apfelkuchen und trank einen Schluck Kaffee. Helen war nach einem Wasserrohrbruch aus ihrer Parterrewohnung ein Stockwerk höher gezogen.
» Du hast doch die flauschigen Teppiche in meinen Hotels immer so bewundert, ich dachte, du suchst dir so einen aus.«
» Die sind jetzt modern«, sagte Helen.
Der kratzige braune Sisalbelag, der den ganzen Boden bedeckte, schlug Wellen. Er schlug Wellen, weil darunter der alte Teppich der vorherigen Mieter lag. Helen und ihr Freund hatten gedacht, dass es so wärmer wäre im Zimmer. Der neue, kratzige Sisalteppich, für den Julius ihr Geld gegeben hatte, wellte sich auf dem Kunststoffteppich der Vormieter und sammelte Staub in den Falten, die dunkle Schatten warfen. Er sah aus, als läge er dort schon seit Jahren. Julius’ Blick verfing sich darin, genauso wie im zusammengeknüllten Staublappen, den Helen im Bücherregal vergessen hatte.
Helen ging darüber hinweg, lächelte ihn an und erzählte von ihrer Reise nach Israel, von der sie gerade zurückgekehrt war, braungebrannt und begeistert. Sie erzählte von der wüstenähnlichen Landschaft, von der Grenze zu Palästina, von den Spannungen, aber auch der extremen Lebensintensität in Tel Aviv, Jerusalem, Haifa, von ihrem Besuch in einem Kibbuz und den Soldaten überall.
» Ich würde am liebsten ein Semester dort studieren!«
» Wären die Vereinigten Staaten nicht sinnvoller?« Er runzelte die Stirn.
Am Ende fragte er: » Soll ich dir jemanden schicken, der dir den Teppich nochmal richtig verlegt?«
Helen wurde rot. Er schüttelte den Kopf, dann grinste er, sie fingen beide an zu lachen, alles war gut.
VI.
Fluchtmomente
1
Ungefähr zu dem Zeitpunkt, als Helen Julius kennengelernt hatte, im Frühjahr 1982, wurde auf dem Boden der damaligen DDR ein Experiment durchgeführt.
Etwa drei Kilometer von der polnischen Grenze entfernt, im Oderbruch, in einer weiten, verlassenen Fluss- und Sumpflandschaft, die Friedrich der Große hatte trockenlegen lassen und durch die sich nun kleinere Flüsschen zogen wie ein Gewirr von glänzenden
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