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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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irgendeiner Wahrheit auf der Spur sind! Er wird nach dir klingeln, und du wirst aufspringen und fort müssen, und ich werde hier sitzen mit meinen unbeantworteten Fragen!«
    Jahre später noch ärgerte sich Helen, dass sie an diesem Nachmittag nicht nach der Kamera gegriffen und abgedrückt hatte. Sie ärgerte sich, später, dass sie nicht ein einziges Mal Julius’ Gesicht einmal selbst aufgenommen hatte, so wie sie ihn sah, in ihrem Zimmer, vor ihrem Bücherregal, an ihrem blauen Gartentisch, verblüfft, lächelnd, wie auch immer. Wo war die dumme Kamera in diesem Augenblick? Bevor Herr Lippens klingelte? Lag sie in der Küche? Lag sie, in Reichweite, auf Helens Schreibtisch? So wie sonst, wenn Simon anrief und sagte: Ich hole dich in fünf Minuten ab, willst du?
    Jahre später fragte Helen sich, was er gemeint haben könnte, mit diesen Fragen, die sie stellen sollte. Was hätte sie darum gegeben.
    I have some / no pornographic memories … und wenn ich sie hätte? Was läge darin? Meine Erinnerungen an dich, meine Trauer über deinen Tod, meine Suche nach deinen Spuren, die Briefe, die ich dir schrieb? Vor Kurzem sah ich einen Film von Pedro Almodóvar, Zerrissene Umarmungen. Darin gibt es eine Szene, in der ein Filmregisseur mit der Frau, die er liebt, gespielt von Penelope Cruz, auf einer Couch liegt und einen alten Film sieht. Es ist ein Augenblick großer, entspannter Intimität. Plötzlich steht er auf, stellt seinen Fotoapparat auf ein Regal neben dem Fernseher, richtet den Selbstauslöser ein, springt zu ihr zurück, sie nehmen einander in den Arm –
    Und man begreift sofort: Dieses Foto wird niemals die Empfindung zeigen, die sie in diesem Augenblick zuvor geteilt haben und die der Mann gern festgehalten hätte. Kurz danach kommt die Frau bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Die Fotografie liegt später zerrissen auf einem Tisch, mit vielen anderen zerrissenen Fotos des Paares. Die Empfindung aber, die große, vielschichtige Empfindung ihrer Liebe, wird auf ganz andere Weise erzählt, lang und kompliziert, in einer immer wieder gebrochenen Erzählung: diesem ganzen Film.
    Kurz nachdem Julius Helen seine Standpauke gehalten hatte, klingelte es wie erwartet an der Tür.
    » Ich muss los«, sagte Julius bedauernd. » Die Zeit ist zu schnell vergangen.« Er umarmte sie. » Du machst das schon«, sagte er, » ich glaube an dich.«
    » Ich will doch gar nichts ausschließen«, sagte Helen etwas mühsam, » es ist nur gerade jetzt nicht dran.«
    Sie begleitete ihn zur Straße. Sie gingen das enge Treppenhaus hinunter, in dem es feucht aus dem Keller roch, durch den Hof, in dem die Nachbarin sich das winzige Gärtchen angelegt hatte, durch die schwere Tür, die so viele Male am Tag geöffnet wurde und wieder ebenso schwer und laut ins Schloss fiel, durch den ersten Hof, der schattiger war als der hintere, in dem die Mülltonnen standen, noch eine schwere Tür, bis sie vorn auf der belebten Straße mit dem Kopfsteinpflaster standen. Der Frisör mit dem rosa gestrichenen Laden, der jedes Mal anrief, wenn sich ihr Kater zu ihm verirrt hatte oder gegenüber im Fenster saß, in der Boutique der Schneiderin, mit den von ihr entworfenen Kleidern. Das Obst, das leuchtete, vor dem Gemüseladen vorn an der Ecke.
    Herr Lippens stand schon bereit, seinem Chef die Tür aufzuhalten. In unauffälligem Abstand wartete ein zweiter dunkler Wagen mit zwei Männern. Es waren tatsächlich zwei Leibwächter, nicht nur einer. Herr Lippens machte eine Kopfbewegung zu ihnen hin.
    » Der Chef wollte unbedingt allein zu Ihnen, Fräulein Helen! Geht es Ihnen gut?«
    Herr Lippens streifte seinen rechten Handschuh ab, um Helen die Hand zu schütteln.
    Herr Lippens, der Julius viele Jahre lang gefahren hatte, ihn begleitet hatte, tagtäglich,
    Guten Tag, Fräulein Helen, wie geht’s?
    Unvergesslich, wie er in die Hosentasche griff, Geld herausholte und es Helen in die Hand drückte, nehmen Sie, nehmen Sie, der Chef wird mir sonst böse, Sie sollen sich einen schönen Abend machen, mit einer Freundin oder –
    Was für eine schöne Idee, Fräulein Helen, da wird sich der Chef aber freuen –
    Wiedersehen, Fräulein Helen, bis zum nächsten Mal!
    Herr Lippens hatte sie auch manchmal abgeholt, allein, und zu Julius gebracht, oder sie hatten ihn zusammen aufgelesen, bei einem Termin,
    ich weiß noch, einmal, in München,
    als Helen sich in Hut und Mantel, wie man so schön sagt, auf den Weg machen wollte, klingelte das Telefon im Flur der WG .

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