Der Tag ist hell, ich schreibe dir
Linien, einer Landschaft, in der das Licht im Frühjahr so fantastisch war, dass man die Grau- und Braun- und Grüntöne der nackten Bäume und Sträucher auf überraschende Weise unterscheiden und sehen konnte, führte das Personal einer Ausbildungs- und Eliteeinheit der Arbeitsgruppe »Minister« des Ministeriums für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik einen Versuch durch, bei dem ein hellgrauer Trabant durch eine Lichtschranke fuhr, die einen Zünder auslöste. Der Minister selbst, Erich Mielke, war anwesend. Er saß auf einer Art improvisierten Zuschauertribüne am Rande eines Übungsfeldes. Er selbst drückte den Knopf, der das Experiment in Gang setzte. Gespannt verfolgte er mit den anderen Anwesenden zusammen, wie der Trabant losfuhr, an Fahrt gewann, beschleunigte und nach etwa zwanzig Metern – beim Überqueren der unsichtbaren Lichtschranke – in die Luft flog. Erleichtert atmete man auf. Der Protokollant, Herr K., sah zu seiner großen Verwunderung, dass Erich Mielke ein paar Tränen der Rührung in den Augen standen. Später tippte er diese Beobachtung als Zeichen des Erfolgs der Operation in sein mit der Schreibmaschine verfasstes Protokoll: » Wir hatten Freudentränen in den Augen, dass sich die Mühe gelohnt hat.«
Helen erfuhr von diesen Dingen, als sich achtzehn oder neunzehn Jahre nach Julius’ Tod ein amerikanischer Journalist bei ihr meldete, der den Fall für seine Zeitung noch einmal aufrollen wollte, Paul Scott. Dieses Treffen war ein weiterer Auslöser für Helens eigene Recherche geworden.
Nachdem Helen herausgefunden hatte, dass Paul Scott ein seriöser investigativer Journalist war, der mit Vorliebe Korruptionen und andere politisch motivierte finanzielle Verbrechen aufdeckte und auch vor der Mafia nicht zurückschreckte, und sie schließlich auch neugierig wurde, was er denn von ihr wollen könnte, gab sie ihr anfängliches Zögern auf und stimmte einer Verabredung zu. Sie trafen sich in einem der Restaurants an der Spree, von denen aus man auf den Bahnhof Friedrichstraße blickte. Paul Scott war ein unscheinbarer, mittelgroßer Mann, der in seinem hellen Trenchcoat Helens Bild eines Spions recht nahekam. Er hatte, was Helen erstaunte, ihre Adresse von Julius’ Witwe erhalten, die ihm gesagt hatte, dass Helen sich in allen Dingen, die den Osten beträfen, sicher besser auskenne als sie und sich vielleicht schon ihre eigenen Gedanken zu diesem Thema gemacht habe.
Helen zeigte sich mehr als verwundert darüber, als Paul Scott ihr erzählte, wie sich Pia Turnseck noch über sie geäußert hatte.
» Sie scheinen wie jemand empfunden zu werden, der zur Familie gehört, aber dort nicht allzu gern gesehen wird. Die Stimmung ist nicht schlecht.«
Helen rührte gedankenverloren in ihrem Cappuccino. Sie versuchte sich vorzustellen, wie Pia mit ihm sprach. Sie hatte lange nichts von ihr gehört. Damals, als Jonathan Kepler mit seinem Artikel ihre Freundschaft mit Julius bekannt gemacht und eine Welle des öffentlichen Interesses ausgelöst hatte, hatte sie noch einige Male mit Pia gesprochen, die von all dem nicht gerade begeistert gewesen war. Ihre Worte » Julius ist seit fünfzehn Jahre tot, Helen«, klangen Helen in den Ohren. Pia hatte alle Journalisten abgewiesen, die zum Todestag ihres Mannes etwas hatten schreiben wollen. Sie hatte Helen angeboten, sie zu besuchen, doch dann hatte sie sich am Telefon verleugnen lassen und auch auf Helens Briefe nicht reagiert.
» Mich wundert, dass sie mit Ihnen geredet hat«, sagte Helen schließlich zu Paul Scott.
» Sie war sehr nett. Ich glaube, sie hat akzeptiert, dass er ein eigenes, anderes Leben geführt hat, und zu diesem Leben haben offenbar Sie gehört. Wir leben doch alle in mindestens zwei Welten, so wie Sie damals und er, nur dass Sie es geschafft haben, die Grenze dazwischen zu überbrücken.«
» Ach, ja?« Helen staunte. Paul Scott sprach sehr gut deutsch. Er erläuterte ihr, dass nach jahrelangem Schweigen Pia Turnseck die Staatsanwaltschaft aufgefordert habe, den Fall, der niemals wirklich gelöst worden war, wieder aufzunehmen. Sehr schnell hatte man sich in der Öffentlichkeit darauf geeinigt, dass der bekannteste Bankier des Landes, drei Wochen nach dem Mauerfall, durch die Bombe der terroristischen Vereinigung RAF getötet worden sei, die ein Bekennerschreiben geschickt hatte.
Inzwischen hatten sich einige Wissenschaftler und Journalisten mit der internationalen Verstrickung von Terroristen und
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